Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
sie sich zusammengereimt hatte, aufzuschreiben, als Hausarbeit für Professor Winkelmann.
Vor dem Haus machte sie halt und blickte zu den Fenstern hoch, in denen sich die Winterwolken dramatisch spiegelten. Nur zu dieser Zeit hatten sie diese besondere Ausstrahlung, nur jetzt konnte man das neue Jahr förmlich spüren, sehen und atmen – jedenfalls erschien es Anna so.
Kurz nachdem sie die Klingel gedrückt hatte, schnappte die Tür auch schon auf. Anna war sehr erleichtert gewesen, als sie bei Frau Hallmann angerufen und erfahren hatte, dass sie gut zurückgekommen war.
Mittlerweile hatte sie ihren Vorsatz, sich ein Adressbuch zuzulegen, wahr gemacht, die wichtigsten Adressen standen darin. Allen voran die ihrer Mutter.
Die Feiertage bei ihr, Gerd und Jonathan waren sehr schön gewesen, und das nicht nur, weil sich ihr kleiner Bruder tierisch über sein Märchenbuch gefreut hatte.
Nein, dieses Jahr war irgendwie alles anders gewesen. Die Weihnachtskugeln hatten goldener gewirkt, als sie sie in Erinnerung gehabt hatte, und das Weihnachtsessen war das köstlichste gewesen, das sie seit langem gegessen hatte. Warum hatte sie sich diesen Genuss so lange versagt?
Es war es ein wunderbar friedliches, gemütliches Fest gewesen, bei dem sie, wie Micha es gesagt hatte, vollgefuttert auf dem Sofa gedöst und mit Jonathan die hundertste Wiederholung der »Haselnüsse für Aschenbrödel« geschaut hatte. Und sie hatten eine Geschichte geschrieben! Jonathan war mit Feuereifer dabei gewesen, und Anna war sicher, dass er eines Tages auch anfangen würde, irgendwelche Romane zu verfassen. Doch noch war es nicht so weit. Die Versuche mit Jonathan hatten ihr allerdings Ideen für ihre Hausarbeit gebracht. Vom Zauber der Weihnacht würde sie schreiben. Das hatte schon Dickens Erfolg gebracht, und was konnte der Prof schon gegen den einwenden?
Als sie schließlich wieder gefahren war, hatte sie Trauer verspürt. Würde es beim nächsten Mal, wenn sie heimkam, wieder so sein? Sie würde abwarten müssen – und versuchen, selbst dazu beizutragen, dass sich das Klima zwischen ihr und ihren Eltern weiter besserte.
Oben angekommen wurde sie von Frau Hallmann bereits erwartet. Sie trug eine neue graue Strickjacke und einen geblümten Rock. Die Weihnachtstage schienen ihren Beinen gut bekommen zu sein, denn sie waren nicht geschwollen. Dafür lag auf Frau Hallmanns Gesicht ein breites Lächeln.
»Da bist du ja wieder, Mädchen! Schön, dich zu sehen.«
»Ich freue mich auch, Frau Hallmann, ist alles gut bei Ihnen?«
»Sieht man mir das nicht an? Die Weihnachtstage waren sehr belebend. Und diesmal hat es auch überhaupt keinen Streit gegeben, weder um die Geschenke noch um andere Kleinigkeiten.«
»Das freut mich zu hören.« Anna hob den Beutel in ihrer Hand hoch. »Hier habe ich etwas, womit wir auf das neue Jahr anstoßen können.«
»Oh, das ist mir sehr willkommen! Dann komm mal rein.«
Wieder roch es nach Kuchen, diesmal nach Schokoladenkuchen. Den durfte Frau Hallmann wegen ihres Diabetes nur noch in Maßen essen, aber Anna beschloss, nichts dazu zu sagen, denn sie dachte wieder an die Flieder-, Rosen- und Butterblumendame aus der Residenz Alpenfreude. Sie hatte das Heim tatsächlich ausfindig gemacht, sich aber noch nicht getraut, dort anzurufen. Irgendwie wollte sie die Gewissheit, ob die drei Frauen echt waren oder nur Phantasie, noch ein Weilchen hinauszögern.
Frau Hallmann bugsierte Anna ins Wohnzimmer, wo die Kaffeetafel wartete.
»Wie geht es dir jetzt so, wo Weihnachten vorbei ist?«, fragte sie, während sie Kaffee eingoss.
»Ich kann nicht klagen«, antwortete Anna, während sie ihr die Kaffeetasse entgegenhielt. »Und wenn man es genau nimmt, war Weihnachten wirklich schön.
Aber bevor ich Ihnen von meiner Weihnachtsreise erzähle, habe ich eine Frage.«
Sie klappte das Märchenbuch an der Stelle auf, an der der Brief steckte. Während der gesamten Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr hatte ihr die Frage, was aus dem Soldaten geworden war, keine Ruhe gelassen.
Ein wissendes, ein wenig melancholisches Lächeln huschte über das Gesicht der alten Frau. »Hast du ihn also gefunden.«
»Ja, der Brief ist mir beim Blättern aufgefallen, und ich gebe zu, dass ich ihn gelesen habe.«
»Was dein gutes Recht ist, denn das Buch gehört dir ja. Ich finde, die interessantesten Dinge in einem Buch sind nicht die alten Seiten und Geschichten, sondern die Spuren, die die Menschen dazwischen zurückgelassen
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