Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
1. KAPITEL
A ls Anna aus der Straßenbahn stieg, dröhnten sie ihr bereits entgegen: Kinderchöre, die von Flockenwirbeln sangen, dazu Bläser, die christliche Weihnachtslieder schmetterten, und diese wurden wiederum übertönt von modernen Weihnachtshits mit zu viel Glöckchengebimmel. Dann geschah das Unvermeidliche: »Last christmas, I gave you my heart …« , leierte es aus der überdimensionalen Box eines Weihnachtsmarktstandes.
Über George Michaels Vorwurf, sein Herz an Weihnachten verschleudert zu haben, hing eine Wolke aus gebrannten Mandeln, Zuckerwatte und Bratwurst. Die Straßen waren voll, und die gehetzten Menschen hatten kein Auge für die überdimensionale Pyramide, die den Weihnachtsmarkt überragte und von der hölzerne Bergmänner und Räuchermännchen diabolisch auf die Menschenmenge hinabsahen. Aber Anna sah sie und blickte schnell weg. Fiel den Leuten denn nicht auf, wie diese Figuren aussahen? Wie bedrohlich die großen Zähne wirkten? Die starren Augen?
Dem Anblick konnte sie entgehen, indem sie auf die Spitzen ihrer groben schwarzen Boots schaute, doch vor Gerüchen und Geräuschen gab es keine Flucht. Sie hätte sich zwar Ohren und Nase zuhalten können, das hätte allerdings merkwürdig ausgesehen, also zog die Studentin ihren Schal hoch, drückte ihre Tasche fester an den Körper und hastete den Bürgersteig entlang, als gäbe es irgendwo was umsonst.
Doch es gab kein Entrinnen. Bis sie an der Wohnung von Frau Hallmann ankam, hatten sich die Fasern ihrer Jacke, ihr Haar, selbst die Poren ihrer Haut mit Weihnachtsdüften vollgesogen. Von ihren Ohren ganz zu schweigen, in denen George Michael und das Glockengebimmel wie ein Echo in den Alpen nachhallten.
Anna hatte keine Ahnung, woher die Abneigung gegen das Fest der Liebe kam. Als Kind hatte sie es gar nicht abwarten können, bis endlich der Dezember auf dem Kalender erschien und zum großen Countdown geläutet wurde. Doch irgendwann war es damit vorbei gewesen. Sie konnte nicht mal genau sagen, wann, denn schon eine ganze Weile graute es ihr jährlich vor dem 1 . Dezember, der fünfundzwanzig Tage erzwungene Glückseligkeit nach sich zog.
Ihre Reaktion darauf war Flucht, und zwar vor allem, was Weihnachten in irgendeiner Form beinhaltete. Freudig übernahm sie zusätzliche Arbeiten in der Uni, besonders in der Bibliothek, wo aufgrund des Essverbotes nicht einmal der Duft von Mandarinen auf die bevorstehenden Festtage hindeutete.
Auf ihre Fahrten mit der Straßenbahn nahm sie stets genug Lektüre mit, um nicht die Häuser betrachten zu müssen, die sich um diese Zeit mit blinkender Dekoration überboten. Im Studentenheim sah sie zu, dass sie rasch in ihrem Zimmer verschwand oder sich am Abend ins Kino setzte oder in ein Lokal, das es nicht so sehr mit Weihnachten hatte.
Ihre Freundin Paula hatte ihr bereits einen Spitznamen für die Weihnachtstage verpasst. »Grinch« – nach dem amerikanischen Film über den grasgrünen Weihnachtshasser.
Dementsprechend war ihr Nikolausgeschenk im vergangenen Jahr ein grasgrüner Schal gewesen, den Anna sogleich in die entlegenen Weiten ihrer Sockenschublade verbannt hatte. Nicht wegen dem Grinch, sondern weil sie fand, dass Grün sie krank aussehen ließ.
Zweimal in der Woche konnte sie der allgemeinen Weihnachtshektik allerdings nicht entgehen. Da machte sie sich auf den Weg zu Frau Hallmann. Da die 85 -Jährige nicht mehr gut zu Fuß war, kaufte Anna für sie ein und erledigte auch sonst alles, was so im Haushalt anfiel.
»Mutzen, frische Mutzen!«, plärrte ihr jemand mit einem breiten sächsischen Akzent ins Ohr. Anna spürte den heißen Dunst einer Wärmeplatte an ihrer Wange und sprang daraufhin erschrocken zur Seite. Dabei stolperte sie und schaffte es nur gerade so, sich auf den Beinen zu halten.
Den mobilen Mutzenverkäufer, der mit einem Bauchladen die Straßen um den Weihnachtsmarkt unsicher machte, hatte sie in ihren Bemühungen, der Weihnachtsstimmung zu entgehen, glattweg übersehen. Sie warf dem Mann, der eine albern blinkende Weihnachtsmütze trug, einen finsteren Blick zu, der ihn davon abhielt, sein Angebot noch einmal zu wiederholen. Dann eilte sie rasch weiter und ignorierte die wütenden Rufe, die sie kassierte, als sie ein paar Leute, die gerade auf der Jagd nach Mutzen waren, anrempelte.
Nach weiteren fünf Minuten inmitten von Gesang und Zuckerduft hatte sie es endlich geschafft. Vor einem dreistöckigen Mietshaus machte sie halt und ignorierte diesmal die
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