Eine zweite Chance
stieg in das Fahrerhaus und verschwand genauso schnell, wie er gekommen war. Sie folgte dem Wagen ein Stück weit mit dem Blick. Dann schaute sie sich den Karton an. Hob ihn zur Probe hoch. Nicht so schwer, als dass sie ihn nicht hätte tragen können.
Er hatte ein Handtuch um die Hüften geschlungen, als er die Tür öffnete. Seine Haare waren tropfnass. Bevor sie ihr Anliegen vorbringen konnte, machte ihr Blick sich selbständig. Er hatte eine Gänsehaut von der Kälte, und unterhalb der linken Schulter befand sich ein blauer Fleck. Die dunklen Haare auf der Brust waren kraus mit einem Einschlag von Grau, und hier und da glänzten kleine Wassertropfen. Verlegen hob sie den Blick zu seinem Gesicht. Entkleidet erschien er fremd.
»Das hier ist für dich gekommen.« Sie deutete auf den Karton und kehrte zur Treppe zurück.
»Wie gut, ich habe ein paar Anziehsachen bestellt. Aber du hättest ihn nicht bis hier rauftragen müssen.«
»Ich bin es gewohnt zu tragen.«
»Ich weiß, aber diesmal wäre es nicht nötig gewesen. Ich will mich nur anziehen, dann komme ich gleich.«
Helena war schon halb die Treppe hinunter. Als sie die Tür zuschlagen hörte, blieb sie stehen. Die Lieferung verwirrte sie. Das Bild, das sie sich unbewusst von Anders gemacht hatte, vertrug sich nicht dem FedEx-Auto. Die Sachen musste er am Morgen bestellt haben und noch dazu per Express. Sie fand ihn widersprüchlich. Mit dem miserablen Lohn einverstanden, den sie ihm bot, und zugleich Geld für eine extravagante Expresslieferung auszugeben. Schnell wie der Wind flog der Gedanke zu ihrer Mutter. Ein Verhalten, das sie so gut kannte. Unfähig, die Konsequenzen zu erkennen, wenn man mit dem Geld Bingo spielte, das eigentlich für das Abendessen gedacht gewesen war.
Sie ging in die Küche hinunter und schälte weiter die Kartoffeln. Ein störender Stich von Zweifel dämpfte ihre gute Laune. Martin hatte immer ihren tief verwurzelten Argwohn gerügt – die Tendenz, den Menschen zu misstrauen, bis sie das Gegenteil bewiesen. Was in der Kindheit überlebenswichtig gewesen war, stellte sich oft als ein Hindernis für die Gemeinschaft im Erwachsenenleben heraus. Sie beschloss, den Zweifel beiseitezuschieben. Wenn auch nur, um Martin nicht Recht geben zu müssen.
Die Gedanken zerstreuten sich rasch, als jemand an die Haustür klopfte. Sie warf einen Blick auf die Uhr, legte eine halb geschälte Kartoffel weg und griff nach dem Küchenhandtuch, mit dem in den Händen sie hinaus in die Diele ging, um zu öffnen. Zu ihrer Verwunderung fand sie Lisbeth auf der Treppe, gleich darauf entdeckte sie Lasse ein Stück weiter weg in der Dunkelheit. Besuch von den beiden war selten, und als das erste Erstaunen verflogen war, wurde sie unruhig. Hatte Anna-Karin etwas von ihrem Streit erzählt? War sie verärgert? Sie tat einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen. »Hallo.«
»Hallo, Helena, bist du beschäftigt, oder hast du kurz Zeit?«
»Natürlich, kommt herein, ich bin nur gerade dabei zu kochen.«
Lisbeth wandte sich Lasse zu. Er blieb stehen, mit gebeugten Schultern, die Hände tief in den Jackentaschen. Anscheinend war es Lisbeth, die die Idee für den Besuch gehabt hatte, Lasse schien eher gezwungenermaßen mitgekommen zu sein. Schließlich ging er die Treppe hinauf, und Helena bat sie ihre Jacken abzulegen. Sie wollten nicht lange bleiben, sagten sie und behielten ihre Jacken an. Die Gummistiefel streiften sie ab, und Helena lud sie in die Küche ein.
»Kann ich euch etwas anbieten?«
»Nein danke, wir wollten nur kurz mit dir reden.«
Helena fühlte den Schatten wachsen. Ihre sensiblen Antennen ahnten Probleme. »Wollen wir uns setzen?«
»Ja, aber nur kurz.«
Sie ließen sich am Küchentisch nieder. Helena auf der einen Seite, die Gäste auf der anderen. Lasse mied ihren Blick und sah nach draußen. Vom Hof der Anderssons konnte man nur die erleuchteten Fenster erkennen. Helena wartete in atemloser Spannung, spürte ihren Herzschlag.
Ein unsicheres Lächeln überflog Lisbeths Gesicht. »Wir kennen uns ja nicht so gut, aber ich … oder wir müssen etwas besprechen.«
»Okay?«
Lisbeth warf ihrem Mann einen Blick zu, doch der hatte sich immer noch dem Fenster zugewandt.
»Ist Anna-Karin hier gewesen und hat etwas über Lasses Besuch heute bei der Anwältin gesagt?«
»Nein.«
»Aber du weißt vielleicht, worum es geht?«
»Ja, doch, sie war heute Morgen hier und hat ein bisschen erzählt.«
»Was hat sie gesagt?«
»Es ging um
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