Eine zweite Chance
monatelang in dem Karton vor sich hin rottet. Aber gerade jetzt hat sie keine Zeit. Sie steht mitten im Zimmer und wartet auf etwas, in einem altmodischen, weißen, bestickten Kleid. Herausgeputzt und voller Erwartungen.
Ein Fenster steht offen, und draußen leuchtet ein goldgelber, blendender Schein. Eine hauchdünne Gardine flattert in das Zimmer, sie weiß nicht, warum sie sie in dieser Länge genäht hat. In wellenartigen Bewegungen schwebt sie durch die Luft. Im Fußboden öffnet sich ein Spalt, und heraus windet sich eine schöne Schlange. Die Schuppen schimmern in Rot und Orange, als das Licht vom Fenster über sie streicht. Die Schlange lockt sie zu einer unbekannten Tür, nur so groß wie eine Luke. Sie weiß, was sie erwartet, geht in die Hocke, um hineinzukommen, und findet eine Steintreppe, die hinunter in den Keller führt. Das lange Kleid raschelt auf den Treppenstufen. Die Schlange ist dicht hinter ihr, sie nimmt ihre Nähe wahr, ahnt eine Zungenspitze im Nacken. Sie weiß, wer es ist, und Begehren erfüllt sie. Ihr Körper zittert vor Erregung. Sie fühlt sich vollständig sicher, sie spielen ein Spiel. Bald wird sie seine Hände spüren, sie werden begierig nach ihr greifen, sie kann es kaum erwarten, sich der Kraft seines Verlangens hinzugeben. Sie fühlt, wie er …
Mama.
Helena erwachte mit einem Ruck. Es war ganz hell im Zimmer, und neben dem Bett stand Emelie, fertig angezogen und mit dem Schulranzen in der Hand.
»Schläfst du?«
Helena setzte sich auf. »Wie viel Uhr ist es, haben wir verschlafen?«
»Mama, es ist fünf nach drei am Nachmittag.«
»Herrgott, ich wollte mich nur für eine Weile hinlegen, ich muss eingeschlafen sein.«
»Du bist schwarz unter den Augen.«
Emelie ging, und Helena strich mit dem Zeigefinger unter den Augen entlang. Nach einem Blick auf die Uhr wurde ihr klar, dass sie vier Stunden lang geschlafen hatte.
Nachdem sie sich das Gesicht gewaschen hatte, eilte sie die Treppe hinunter, gerade als Anders zur Tür hereinkam. Angesichts des Blaumanns stutzte sie, gewohnt, ihn an einem anderen Körper zu sehen.
»Hallo, wie läuft es?«
»Ganz gut. Ich bin mit den Wänden im ersten Zimmer fertig und fange gleich mit den Leisten an. Ich wollte mir nur ein Butterbrot machen.«
»Selbstverständlich. Entschuldigung, ich hätte etwas zu essen machen sollen, ich bin bei der Buchführung hängen geblieben.« Sie ging an ihm vorbei zur Küche, schämte sich für ihre Nachlässigkeit. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt mitten am Tag geschlafen hatte. »Ich kann dir ein Omelett machen.«
»Nein danke, ich esse bloß ein Butterbrot und mache gleich weiter. Ich möchte mit dem ersten Anstrich fertig werden, damit er über Nacht trocknen kann. Morgen kommt der zweite, und dann ist das Zimmer fertig.«
Sie lächelte. »Wow, du hörst dich an wie ein richtiger Profi.«
»Das ist wohl ein bisschen übertrieben, ich habe bloß die Anleitung auf dem Farbtopf gelesen. Aber es macht tatsächlich richtig Spaß.«
Sie betrachtete ihn heimlich, erinnerte sich an den Mann, den sie am Vortag empfangen hatte, der ihr nun wie ein ganz anderer erschien. Etwas mit dem Blick, ein anderer Glanz. »Hier.«
Butter, Käse und Schinken wanderten durch Anders’ Hände, bevor sie auf der Anrichte landeten. Er ging zum Schrank, in dem sich das Brot befand, sie genoss den Anblick, wie er es hervorholte. Das Beisammensein fühlte sich einfach an. Unter alltäglichem Geplauder schmierten sie ihre Brote, und sie holte zwei Dosen leichtes Bier aus dem Kühlschrank. Dann setzten sie sich an den Tisch.
Er biss in das Brot. »Wie läuft es denn mit der Buchführung?«
»Na ja, irgendwie wird es wohl auch für diesen Monat reichen. Jetzt ist ja die schlimmste Nachsaison, aber zum Juni hin wird es besser.«
»Betreibst du das auch den ganzen Sommer über allein?«
»Nein, für Juli und August stelle ich einen Koch an.« Unwillkürlich schaute sie durch das Fenster zu Anna-Karins Haus. »Außerdem habe ich eine Aushilfe, die bei Bedarf einspringen kann, aber sie steht vermutlich nicht mehr zur Verfügung.«
Die Frage ließ sich an seinen hochgezogenen Augenbrauen ablesen.
»Es ist noch etwas unklar, ob sie weiterarbeitet oder nicht. Möchtest du einen Kaffee?«
»Nein danke.« Er aß weiter, saß eine Weile da und schaute zum Fenster hinaus. »Übrigens, ich habe mich da drüben im ersten Stock umgesehen, wozu ist der gedacht?«
»Du meinst den Heuboden? Da sollten Konferenzräume
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