Einem Tag in Paris
wundert sich, dass ihr Privatlehrer ein Mann ist, dass er jung ist und verblüffend gut aussieht. Sie überlegt, ob sie zurück zu dem Büro in diesem abscheulichen modernen Gebäude gehen und der verwahrlost wirkenden Frau hinter dem Schreibtisch sagen soll, dass sie einen Fehler gemacht hat, dass sie doch keinen Privatlehrer für den Tag will, dass sie zurück in ihr Hotelzimmer gehen und Orangina mit Wodka trinken will.
Der Privatlehrer gibt ihr die Hand, und sie wundert sich, wie warm seine Haut ist – ihr ist seit so vielen Tagen kalt. Sie zieht ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.
»Sie sind also Französischlehrerin«, sagt er auf Französisch zu ihr.
»Oui«, antwortet sie. »Aber es ist lange her, seit ich mit irgendjemandem außer amerikanischen Jugendlichen französisch gesprochen habe.«
Sie sagt nicht: Es ist lange her, seit ich überhaupt mit jemandem gesprochen habe.
Sie hat erst gestern entschieden, einen Privatlehrer zu engagieren, als ihr bewusst wurde, dass sie nach drei Tagen in Paris noch immer nicht mehr als ein paar Worte geredet hatte – wenn sie sich ein Croissant oder ein Glas Wein bestellte oder das Zimmermädchen des Hotels um ein zusätzliches Handtuch bat. Die Aussicht auf einen ganzen Tag Gespräch erschreckt sie auf einmal. Sie fühlt sich einer Unterhaltung nicht gewachsen.
»Sind Sie geschäftlich oder zum Vergnügen in Paris?«
Es ist eine Fangfrage. Sie hat kein Geschäft, und sie hat kein Vergnügen. Sie hat ihren Job vor drei Wochen aufgegeben. Der Mann, den sie liebte, ist vor drei Wochen gestorben.
»Ich bin hier, um Schuhe zu kaufen«, antwortet sie schließlich.
Er sieht auf ihre Füße. Sie trägt rote Converse-Turnschuhe.
Es sind die Schuhe, die sie immer trägt. Ihre Schüler liebten ihre Schuhe. Ihre Exfreunde, Nichtstuer allesamt, liebten ihre Schuhe. Aber Simon wollte, dass sie sich Erwachsenenschuhe kaufte, Pumps mit acht Zentimeter hohen Absätzen, Riemchensandalen, rote Stilettos. Und so kaufte er ihnen zwei Tickets, um nach Paris zu fliegen.
»Wir werden shoppen gehen«, sagt der Privatlehrer.
»Nein, ich wollte …«
»Es gibt keinen Grund, in einem Klassenzimmer zu sitzen«, sagt er zu ihr. »Paris ist unser Klassenzimmer.«
Er sieht sich um, während sie sich mit einer Hand den Magen hält, der sich unter heftigen Krämpfen zusammenzieht. Sie will nicht, dass ihr wieder schlecht wird, so wie gestern in der métro. Noch ein Grund, weshalb sie wieder in ihrem Hotelzimmer sein sollte, unter der muffigen Bettdecke.
»Wir werden den Bus nehmen«, sagt der Privatlehrer. »Mehr zu sehen, mehr zu reden.«
Seine Begeisterung bringt sie fast um.
»Ich bin übrigens Nicolas. Nennen Sie mich einfach Nico.«
»Josie«, sagt sie.
»Josie«, wiederholt er lächelnd, als hätte er eben etwas Wundervolles entdeckt. »Gehen wir Schuhe kaufen.«
Im Bus verliert sie sich in Erinnerungen. Vor einem halben Jahr. Sie stand auf der Schulbühne, arbeitete mit einem ihrer Schüler an dem bevorstehenden Theaterstück. Josie sah hoch, als die Tür zum Saal auf- und wieder zuging und einen Lichtstrahl und ein flüchtiges Bild eines hochgewachsenen Mannes in einem schwarzen Anzug hereinließ. Silbergraues Haar. Und dann wieder Dunkelheit.
Sie sah zurück zu dem Jungen auf der Bühne.
»Na los. Versuch’s noch einmal«, sagte sie sanft.
Aber der Junge spähte in die Dunkelheit des Theaters. Jetzt würde er seinen Text niemals lauter als im Flüsterton sprechen. Nimm einen schüchternen Jungen und stell ihn auf die Bühne – und was? Er entdeckt seine innere Kraft und verwandelt sich vor seinen Altersgenossen? Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, die Hauptrolle mit Brady zu besetzen? Sie hatte sich gedacht, sie würde ihn retten. Nichts weniger als das. Aber Brady, so niedlich und süß und schlau er auch sein mag, kann seinen Text nicht herausschmettern, kann keinen lauten, schmatzenden Kuss auf die Lippen der entzückenden Glynnis Gilmore drücken.
»Dad«, sagte der Junge.
Josie sah in die Dunkelheit des Theaters. Der Mann saß dort, irgendwo. Scheiß auf ihn.
»Brady. Achte nicht auf deinen Vater. Wir haben noch eine Viertelstunde.«
Brady sah sie an, die Augen ängstlich aufgerissen. »Ich kann nicht, wenn er hier drinnen ist.«
Josie ging zu ihm auf die Bühne. Er stand an die Steinmauer aus Pappmaschee gelehnt, als würde sie ihn abstützen. Sie würde ihm zeigen müssen, wie er die Bühne benutzen sollte, so, als ob sie ihm
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