Einem Tag mit dir
Tasche. Wir Lazarettschwestern hatten damals immer etwas Morphium dabei. Damit konnten wir Atea von ihren Schmerzen befreien. Erst hat es mir widerstrebt, aber als ich sie röcheln hörte, wurde mir klar, dass es die einzige Lösung war. Das Morphium reichte aus, um sie von ihrem Elend zu erlösen. Sie ist in meinen Armen gestorben.«
Genevieve tätschelte mir den Arm. »Sie haben das Richtige getan«, sagte sie. »Jeder hätte in Ihrer Situation das Gleiche getan.«
Ich wischte mir eine Träne von der Wange. »Das sage ich mir seit damals auch immer wieder, aber in meinem Herzen weiß ich, dass ich mehr hätte tun können.«
»Sie meinen, indem Sie den Mord angezeigt hätten?«, fragte Genevieve.
»Ja.«
»Erzählen Sie mir, warum Sie es nicht getan haben.«
Ich nickte. »Westry hat mich gebeten zu schweigen. Er meinte, es sei zu unserem eigenen Besten, er glaubte, man würde uns den Mord anhängen. Aber ich glaube nicht, dass das der wahre Grund war. Wenn Westry den Mord nicht anzeigen wollte, dann muss er einen sehr triftigen Grund dafür gehabt haben.« Ich schaute aufs Meer hinaus und dachte daran, wie er damals mit mir gesprochen hatte. So selbstsicher, so entschlossen. Er hatte irgendetwas gewusst, was er mir verheimlicht hatte. »Er hat etwas davon erwähnt, dass er jemanden schützen wollte«, sagte ich. »Er meinte, wenn wir unsere Vorgesetzten informierten, würde etwas Schreckliches passieren. Und ich habe ihm vertraut.«
»Können Sie sich vorstellen, was er damit gemeint haben könnte?«
»Nein«, sagte ich und zuckte ratlos die Schultern. »Glauben Sie mir, ich zerbreche mir seit siebzig Jahren den Kopf darüber, und ich weiß heute genauso wenig wie damals.«
Genevieve seufzte.
»Aber wie ich Ihnen gestern Abend schon gesagt habe, gibt es etwas, das ich Ihnen zeigen möchte«, fuhr ich fort. »Ein Beweisstück. Ich habe es am Abend des Mordes versteckt in der Hoffnung, es könnte eines Tages, wenn die Wahrheit ans Licht käme, von Nutzen sein. Vielleicht ist es ja jetzt so weit.«
Wir standen auf.
»Soll ich Sie zu der Stelle führen?«
»Ja bitte!«, erwiderte Genevieve erwartungsvoll.
Jennifer stützte mich, als wir uns durch das Dickicht kämpften. Ich betete, dass ich die Stelle wiederfinden würde.
Ich schaute mich um und versuchte, mich zu erinnern. »Dort«, sagte ich. »Dort müsste es sein.«
Natürlich sah alles ganz anders aus, aber als ich die riesige Palme entdeckte, die alle anderen Bäume überragte, wusste ich, dass ich mich nicht irrte. Ich ging mit klopfendem Herzen voraus. Vor der Palme kniete ich mich hin und begann, mit den Händen in der weichen, feuchten Erde zu graben.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Genevieve.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab’s gleich.« Schwarze Erde klebte mir an den Händen und unter den Fingernägeln. Früher hätte mich das vielleicht gestört, aber jetzt war mir das alles egal. Noch nie war ich der Wahrheit so nah gewesen.
Kurz darauf berührten meine Finger etwas Hartes. Fieberhaft scharrte ich die Erde beiseite. Dann hielt ich den Atem an.
»Grandma, alles in Ordnung?«, flüsterte Jennifer besorgt und hockte sich neben mich.
»Ja«, antwortete ich und zog das Päckchen aus der Erde, das ich vor all den Jahren hier vergraben hatte. Ich wickelte den Stoffstreifen, den ich damals von meinem Kleid abgerissen hatte, beziehungsweise was nach der Zersetzung durch Feuchtigtkeit und Insekten noch davon übrig war, auseinander, und zum Vorschein kam das Messer.
»Das ist die Mordwaffe«, sagte ich zu Genevieve. »Ich habe gesehen, wie er das Messer nach der Tat in den Dschungel geworfen hat. Als er weg war, habe ich es gesucht und vergraben in der Hoffnung, es wiederzufinden, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen wäre.«
Wie eine professionelle Kriminalistin nahm Genevieve eine Plastiktüte aus ihrem Rucksack und ließ das Messer vorsichtig hineingleiten. Dann reichte sie mir ein feuchtes Tuch, damit ich mir die Hände säubern konnte. »Es ist der richtige Zeitpunkt«, sagte sie. »Ich danke Ihnen.«
»Sie müssen mir nicht danken«, entgegnete ich ernst. »Sorgen Sie einfach für Gerechtigkeit, für Atea.«
»Das werde ich«, versprach Genevieve, während sie das Messer in der Plastiktüte betrachtete. »Diese Gravur, diese Nummern, die haben bestimmt irgendeine Bedeutung.«
»Ja«, sagte ich. »Die Nummern werden Sie zu Lance führen.«
Sie verstaute das Messer in ihrem Rucksack. »Das kann ich mithilfe meiner Freunde bei
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