Eines Abends in Paris
leuchten begannen, sah ich sie.
Sie kam, eine Stunde zu früh, in einem sommerlichen Kleid und ohne Hast die Brücke entlang. Sie trug rote Ballerinas, hatte eine kleine Strickjacke über die Schultern gehängt, und bei jedem Schritt flatterte der Saum ihres Rockes um ihre Beine. Sie ging auf der Seite, wo auch ich an der Brüstung lehnte, aber sie war so in ihre eigenen Gedanken vertieft, dass sie mich erst bemerkte, als sie fast vor mir stand.
»Alain!«, sagte sie. Die Überraschung zauberte ein allerliebstes Lächeln auf ihr Gesicht und sie strich sich mit dieser kleinen, mir so vertrauten Geste, die Haare hinter das Ohr. »Was machst du denn schon hier?«
»Ich warte auf dich«, sagte ich mit belegter Stimme.
Vergessen waren all die schönen Worte, die ich ihr bei unserer Begegnung sagen wollte, vergessen waren die Rosen, die hinter mir auf der Brüstung lagen. Ich sah ihre verweinten Augen, ihre Wangen, über die sich eine zarte Röte legte, ich sah ihren zitternden Mund und mir zerriss es fast das Herz vor Freude und Rührung und Erleichterung und Glück.
»Ich warte doch nur auf dich!«
Einen Wimpernschlag später lagen wir uns in den Armen. Weinend, lachend. Unsere Münder fanden sich ohne große Worte.
Wir küssten uns und die Sekunden wurden zu Jahren und die Jahre wurden zu einem Stück Ewigkeit. Wir küssten uns unter einer alten Laterne, die über uns hing wie ein Mond unter Monden. Wir küssten uns auf einer der schönsten Brücken von Paris, die in diesem Moment nur uns beiden gehörte, wir flogen hoch, hinauf in den Himmel, höher und höher, und Paris wurde zu einem Stern unter Sternen.
Noch lange standen wir da, ganz benommen vom Glück, zwei Zeitreisende, die endlich an ihrem Wunschort angekommen waren, und sahen auf den Fluss, in dem sich die Lichter spiegelten. Wir lehnten an der Brüstung und unsere Finger verschränkten sich ineinander wie beim ersten Mal.
»Warum bist du damals nicht einfach ins Cinéma Paradis gekommen?«, fragte ich leise. »Du hättest mir nur vertrauen müssen.«
»Ich hatte Angst«, sagte sie und ihre dunklen Augen schimmerten. »Ich hatte eine solche Angst, dich zu verlieren, dass ich dich lieber freiwillig verloren gab.«
Ich zog sie wieder in meine Arme. »Ach, Mélanie …«, sagte ich leise und vergrub mein Gesicht in ihrem Haar, das nach Vanille und Orangenblüten duftete. Ich hielt sie ganz fest und versuchte doch selbst nur der Woge von Zärtlichkeit standzuhalten, die mich erfasste.
»Du wirst mich niemals verlieren. Das verspreche ich dir«, sagte ich. »Du wirst mich nie mehr los, du wirst schon sehen.«
Sie nickte und lachte und wischte sich eine Träne von der Wange. Und dann sagte sie genau das, was ich eben gedacht hatte, als ich auf der Brücke stand. »Jetzt wird alles gut.«
Hinter uns erklang ein schlurfendes Geräusch. Wir drehten uns um und sahen verblüfft zu dem alten Mann hinüber, der in Pantoffeln die Brücke entlangschlurfte. Er ging vornübergebeugt und stieß ab und zu grimmig seine Faust in die Luft.
»Das ist alles ein großer Beschiss hier!«, stieß er zornig hervor. »Ein großer Beschiss!«
Wir sahen uns an und lachten.
Als wir einen Augenblick später Arm in Arm den Pont Alexandre entlanggingen, um an das andere Ufer der Seine zu gelangen, wo das Café de l’Esplanade lag, war es halb neun.
An der Stelle, wo wir uns eben noch geküsst hatten, lag ein vergessener Rosenstrauß auf einer steinernen Brüstung und bezeugte, dass auch alte weise Männer sich gelegentlich irren können.
»Eigentlich sind wir erst in einer halben Stunde verabredet«, sagte ich. »Warum warst du eigentlich schon so früh auf der Brücke?«
»Ich wollte einfach hier sein.«
Mélanie hob verlegen die Schultern. »Ich weiß, es klingt ein bisschen merkwürdig, aber um Viertel vor acht hatte ich mit einem Mal das Gefühl, dass ich unbedingt zum Pont Alexandre gehen sollte. Ich dachte mir, dass ich ja auch ebenso gut auf der Brücke warten könnte, bis wir uns im Café treffen würden. Und dann warst du plötzlich auch da.«
Sie sah mich an und schüttelte lächelnd den Kopf. »Da sind wir wohl beide auf dieselbe Idee gekommen, was?!«
»Ja«, sagte ich und lächelte auch. »Sieht ganz so aus.«
Wir kamen ans Ende der Brücke und ich musste an die Worte meines Freundes Robert denken.
Es stimmte schon – das Leben war kein Kinofilm, in dem sich zwei Menschen begegneten und wieder verloren, um sich dann ein paar Wochen später
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