Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
Aphrodisiakum. Das Horn, das auf einem durchbluteten Knochenzapfen sitzt, besteht hingegen wie unsere Finger- und Zehennägel aus Horn. Dieser entsteht durch eine paarig angelegte Auswachsung der Stirnknochen des Schädels. Er bleibt lebenslang erhalten und wird nicht wie bei den Hirschen abgeworfen und erneuert. Daher zeigen manche Hörner deutlich erkennbare Bildungen ähnlich den Jahresringen von Bäumen.
Das Besondere des Einhorns war also nicht das Horn an sich, sondern die Einzahl des Horns. So etwas gibt es bei den Hornträgern, den Rindern, Ziegen, Schafen, Antilopen und Gazellen tatsächlich nicht; es sei denn es handelt sich um eine Fehlbildung. Unmöglich ist ein einzelnes Horn deswegen nicht, aber als Normalbildung äußerst unwahrscheinlich. Denn der Schädelknochen, aus dem Hörner wie auch Geweihe wachsen, ist paarig angelegt. Erzeugt der rechte Teil ein Horn, der linke aber nicht, so ist das eine Missbildung, vergleichbar dem Fehlen eines Ohres oder eines Auges. Sogar unsere Nase ist, wie die beiden Nasenlöcher beweisen, eine Doppelanlage. Anders sieht es aus, wenn das Horn gar kein richtiges Horn gewesen war, sondern ein falsches; ein Hautgebilde ohne Knochen darin. Dann kann es sehr wohl als Einzelhorn entstehen. Die lebendigen Beispiele hierfür sind allgemein bekannt: die Nashörner. Ob sie ein, zwei oder drei ›Hörner‹ tragen und ob diese lang und spitz oder kurz und stumpf sind, spielt letztlich keine Rolle. Sie werden als Bildungen der Haut, als feste Verwachsungen von Haaren, nicht paarig angelegt. Allein diese Tatsache reichte aus, dass schon in der Antike, verstärkt aber im Spätmittelalter das Einhorn als Nashorn gedeutet worden ist. Ich komme darauf zurück, weil das Horn des Nashorns tatsächlich eine durchaus wichtige Rolle im Komplex spielt, der sich um das ursprüngliche Einhorn entwickelt hat.
Das Horn allein, seine Einzahl, die namensgebend wurde, reicht somit keinesfalls aus, konkrete Hinweise auf die ursprüngliche Natur des Einhorns zu bekommen. Es ist nötig, andere Eigenschaften genauer zu betrachten, so wie sie aus den alten Beschreibungen hervorgehen. Die erste, zumindest die bekannteste unter den ersten Charakterisierungen des Einhorns, war die oben angeführte von Ktesias. Doch schon um 303 v.Chr., also nur ein Jahrhundert nach Ktesias’ Erstbeschreibung, war das Einhorn bei Megasthenes bereits sehr stark verändert worden. Dieser hatte Indien besucht und das Einhorn zwar auch wieder pferdeartig beschrieben, aber versehen mit einem Hirschkopf, dem Schwanz eines Wildschweins und Füßen wie von Elefanten. Außerdem war das Tier seiner Beschreibung nach schwarz, sein Horn nach unserem Maß knapp einen Meter und damit doppelt so lang wie nach Ktesias. Harmonierten bei diesem die Merkmale für einen funktionstüchtigen Tierkörper noch ganz gut, so war das bei Megasthenes nicht mehr der Fall. Beide kannten jedoch das Einhorn sicherlich nicht. Sie waren zwar weit gereist, aber gewiss nicht in unwegsamem Gelände gewesen. Ktesias war Leibarzt des Herrschers und nicht etwa ein Jäger, der mit der einheimischen Bevölkerung in Regionen hätte kommen können, in denen andere Tiere als in Griechenland lebten. Was Ktesias und Megasthenes schrieben, stammte aus Erzählungen, die ihnen zugetragen wurden. Sie hatten sich daraus ihre eigenen Vorstellungen zusammengereimt. Leider hielt sich Plinius der Ältere in seiner vielbändigen Naturgeschichte bei der Behandlung des Einhorns um 77 n.Chr. nicht an Ktesias, sondern an Megasthenes, wodurch die abstruse Kombination nicht zusammenpassender Eigenschaften weitere eineinhalb Jahrtausende lang weitergegeben wurde. Lediglich Aelianus Claudius, der von 170 bis 235 n.Chr. lebte, ergänzte, dass das Horn des Einhorns spiralig gedreht und im Mittelteil schwarz war. Auch er verwies darauf, dass es vor Gift schütze, und fügte etwas Wichtiges hinzu, nämlich dass das Einhorn in der Paarungszeit gesellig und durch »weiblichen Einfluss zahm wird«.
Nach der Antike verlor sich das Interesse am Einhorn, das schon zur Römerzeit abnahm, so gut wie vollständig. Erst die spätmittelalterliche Scholastik griff es wieder auf. Dem Einhorn erging es in dieser Hinsicht wie den anderen bereits behandelten Fabelwesen. Ein Zeitmuster wird erkennbar. Ihr Ursprung lag vor der hellenistischen Zeit; einer Zeit also, die auch im Hinblick auf andere Bereiche historisch die Zeit der Mythen genannt wird. Die griechische Antike deutete die Mythen. Mit ihrer
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