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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H. Reichholf
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Niederschrift waren die Autoren gezwungen, Eigenschaften zu konkretisieren, die im Mythos vielleicht nur angedeutet waren. Frühe Darstellungen wurden auch ausgeschmückt. Zum Wirklichen kam Unwirkliches, nicht selten Unmögliches hinzu. Die Römer übernahmen, was sie selbst nicht anders oder besser kannten. Ein weiterer Zusatz mehr oder minder großer Veränderungen kam hinzu. Auf den Zusammenbruch des Römischen Weltreichs folgten Jahrhunderte der Wirren und der Völkerwanderung. Sie dauerten ein halbes Jahrtausend an. Nachdem sich gegen das Jahr 800 n.Chr. mit der Kaiserkrönung Karls des Großen am 25. Dezember in Rom die Verhältnisse dank der verbindenden Kraft des Frankenreiches im europäischen Westen stabilisiert hatten, begann eine vergleichsweise ruhige Zeit. Die Kultur erblühte wieder. Die 500 Jahre des Hochmittelalters ließen das Christentum erstarken. Der Islam, der auf der Iberischen Halbinsel und auf Sizilien Fuß gefasst hatte, wurde zurückgedrängt. Ein Ziel der Kreuzzüge, die im 11. Jahrhundert begannen, bestand auch darin, Ostrom/Byzanz, zu schwächen und dem römischen Papst die Alleinherrschaft über die Christenheit zurückzugewinnen. Das Vorhaben misslang. Bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 existierte das Byzantinische Reich. Dort und noch ausgeprägter im arabisch-islamischen Raum entwickelten sich die Kenntnisse über die Natur weiter, nicht im Westen, im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Doch die großen Krisen des Spätmittelalters mit den Seuchenzügen der Pest, den verheerenden Naturkatastrophen und der drastischen Verschlechterung des Klimas im 14. Jahrhundert bereiteten die Umwälzungen vor, aus denen die Neuzeit hervorging. In dieser Phase, insbesondere in der Renaissance mit ihrer Wiederentdeckung der Antike und in der Scholastik als neuer Geistesströmung, erstanden die Fabeltiere aufs Neue. Sie erhielten nicht nur ein verändertes, der Zeit angepasstes Aussehen, sondern vor allem eine ganz neue Bedeutung. Sie wurde zur Grundlage für die neuzeitliche Form des Einhorns. Fast zwei Jahrtausende lang hatte es geruht. Umso munterer feiert es Urständ in Filmen, wie Das letzte Einhorn , in zahllosen Abbildungen und Nachbildungen. Man könnte es geradezu als Indikator für die so wechselvolle Zuwendung der Menschen zum Mystischen betrachten: Nach der anfänglich natürlichen Einstufung im Altertum verlor das Einhorn nach und nach seine Realität und mutierte im Mittelalter vollends zum Fabelwesen. Mit der Aufklärung setzte seine Profanisierung ein. Die wissenschaftliche Zoologie des 18. und 19. Jahrhunderts machte aus dem Tier eine Antilope aus Tibet. Als sich herausstellte, dass dem nicht so ist, büßte das Einhorn seine reale Existenz gleich wieder ein. Im 20. Jahrhundert wurde es wiederum zum Fabeltier. Für eine ernsthafte naturwissenschaftliche Fragestellung eignet es sich nicht mehr. Oder vielleicht doch? Was war das Einhorn wirklich?
    Diese historische Entwicklung zwingt dazu, das Einhorn in zwei Formen seiner »Existenz« zu betrachten; in seiner ursprünglichen, so wie es als Tier gemeint gewesen war, und in seiner abgeleiteten, was daraus gemacht worden ist.
    Zum ursprünglichen Einhorn gibt es weit mehr Stoff als das, was von Ktesias und Megasthenes überliefert ist. Eine wichtige Quelle ist die althebräische Bibel, insbesondere die Thora (fünf Bücher Mose). Im 4. Buch Mose (Numeri) heißt es, Gott habe sein Volk aus Ägypten geführt, »seine Stärke ist wie die eines Einhorns«. Im Deuteronomium, dem 5. Buch Mose, geht es weiter im Sinne der Stärke: »seine Hörner sind wie eines Einhorns: mit denselben wird er die Völker zugleich stoßen bis an das Ende der Welt …« Verschiedentlich wird das Einhorn auch in den Psalmen genannt. »Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich vor den Hörnern der Einhörner« und »Wer machet sie springen wie ein junges Kalb, den Berg Libanon und Sirion, wie ein junges Einhorn«. Das Horn selbst wird auch angesprochen: »Aber mein Horn wird erhöhet werden, wie eines Einhorns: Ich werd mit frischem Oel gesalbt werden.« Und etwas ist im Alten Testament angedeutet, was mit der Zähmung des Einhorns zu tun hat. In veränderter, der Zeit angepasster Form ist es erst von den Scholastikern wiederaufgegriffen worden, obgleich es Aelianus Claudius bekannt war, aber den altgriechischen Autoren anscheinend nichts gesagt hatte (Buch Hiob): »Wird das Einhorn so zahm, dass es dir diene

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