Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
Gesehen hat er das tibetische Einhorn nicht, weder lebendig noch tot. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Suche nach unbekannten Tieren verstärkt worden wie nie zuvor und auch seither nicht mehr. Die entlegensten Winkel der Erde wurden abgesucht. An der Wende zum 20. Jahrhundert entdeckte man die Waldgiraffe im Kongo, das Okapi. Eine im Offenland vorkommende Tierform von Pferdegröße hätte nicht unentdeckt bleiben können. Das Einhorn musste wieder zum Fabeltier zurückgestuft werden.
Also verbleibt nur die Möglichkeit, dass es im Altertum vorkam, aber frühzeitig ausstarb, so dass schon die griechischen Historiker und Naturforscher Herodot und Aristoteles keine konkrete Kenntnis davon mehr bekommen hatten.
Den wesentlichen Beschreibungen der Antike zufolge deuten die Kennzeichen ganz klar auf ein Huftier hin. Aber weil die Hufe gespalten waren, gehörte es nicht zu den Pferden, den Einhufern, sondern zu den Paarhufern und als Hornträger zur Familie der Rinderartigen. Das lange, spießartige Horn mit auffällig ringelartigen Querwülsten verweist auf die Großantilopen. Darin gibt es die Gruppe der sogenannten Pferdeböcke. Nach Körpergröße, Fellfarbe und der Form der Hufe gehörte das Einhorn zur Gattung der Oryx-Antilopen.
Zu diesen hatte es Johannes Lennis Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich ganz folgerichtig gestellt. Er führte drei Arten bzw. Unterarten von Oryx-Antilopen an, nämlich den südafrikanischen Gems- oder Spießbock ( Oryx gazella gazella ), die ostafrikanische Beisa-Antilope ( Oryx gazella beisa ) und die Milchweiße Antilope Arabiens, auch Weiße Oryx ( Oryx leucoryx ) genannt. Sie wird als eigene Art angesehen und von den afrikanischen Unterarten der Oryx abgegrenzt. Der südwestafrikanische Spießbock kommt wegen der geographischen Entfernung nicht in Betracht. Doch zur (nord)ostafrikanischen Beisa-Antilope in Lennis’ Darstellung passen die alten Beschreibungen: »Hörner gerade, Körper isabellfarbig, Hirschgröße. Nicht vorige (die Arabische oder Milchweiße Oryx) sondern diese, erst kürzlich wieder aufgefundene Art, soll der wahre, auf egyptischen und nubischen Denkmälern so oft und als einhörnig dargestellte Oryx der Alten sein. Zu dieser rechnete man auch das früher für fabelhaft gehaltene Einhorn. … Allein obige Antilope hat zwei Hörner, …, auch ist es nicht wahrscheinlich, dass die Egypter ein Thier so oft auf ihren Denkmälern verstümmelt dargestellt hätten.« Aufgrund dieser Überlegungen und im Hinblick auf die Nachrichten aus der ostindischen Compagnie verwirft Lennis nun unverständlicherweise die Oryx und siedelt das Einhorn im Hochland von Tibet an. Die zweite Art seiner Auflistung, die Arabische Oryx, hätte allerdings den alten Beschreibungen noch sehr viel besser entsprochen: »Körper milchweiß, Hals u. Nase rostbräunlich; Hirschgröße. Arabien.«
Eine Beisa-Oryx fotografierte ich 1977 in Südäthiopien als »Einhorn« so von der Seite, dass beide recht eng beisammen stehenden Hörner optisch zur Deckung kamen. Sie wäre gut und gern als Einhorn in Frage gekommen, hätten die Zeiten ihr ursprüngliches Aussehen nicht so sehr verändert. Doch so gut die ostafrikanische Oryx auch passt, die arabische Weiße Oryx entspricht noch viel besser den Anforderungen. Sie hat einen weitgehend weißen Körper, »rotes« Gesicht, blaue, also tiefgründig spiegelnde Augen, ist so groß wie ein Pferd (ein kleines Araberpony), hat dunkle Beine und ausgeprägt pferdeartige, gleichwohl gespaltene Hufe. Schnelligkeit und Ausdauer gelten für sie wie für die anderen Formen der Oryx-Antilopen, auch die Lebensweise. Es ist klar, dass in den Weiten der Halbwüsten Arabiens ein so schnelles Tier, das ins flimmernde Nichts hineinflüchten und darin verschwinden kann, auch nicht zu fangen ist. Die kräftigen Oryx-Antilopen verteidigen sich mit ihren meterlangen Hornspießen erfolgreich gegen Löwen. Megasthenes hatte die Hornlänge durchaus richtig angegeben. Wie bei Antilopen und Gazellen üblich, werden die Böcke zur Fortpflanzungszeit weniger vorsichtig und nähern sich mit hochgezogenen Lippen »flehmend« den brünstigen Weibchen ihrer Art (auch anderen, wenn diese weibliche Sexualdüfte verströmen). Die nordostafrikanische Oryx wird über 200 kg schwer, die arabische bleibt kleiner. Beide Arten waren den Alten Ägyptern so gut bekannt, dass sie diese häufig und zoologisch ganz zutreffend auf Reliefs darstellten. Theodor Haltenorth (1977)
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