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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H. Reichholf
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späteren Übertragungen in andere Kulturen. Die Übersetzer hatten sich an die jeweils geltenden Moralvorstellungen mehr zu halten als an die Genauigkeit der Wiedergabe. Sicher gilt dies auch für das fabelhafteste der Fabeltiere, für das Einhorn.

Das Einhorn
    Quellen und Wurzeln
    O dieses ist das Tier, das es nicht gibt.
    Mit dieser Zeile beginnt das bekannte Gedicht über das Einhorn von Rainer Maria Rilke. Darin fasst er den Kern des Einhorn-Mythos zusammen. Das ganze Gedicht lautet:
    O dieses ist das Tier, das es nicht gibt.
    Sie wussten’s nicht und habens jeden Falls
    – Sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals,
    Bis in des stillen Blickes Licht – geliebt.
    Zwar war es nicht. Doch weil sie’s liebten, ward
    Ein reines Tier. Sie ließen immer Raum.
    Und in dem Raume, klar und ausgespart,
    Erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaum
    Zu sein. Sie nährten es mit keinem Korn,
    Nur immer mit der Möglichkeit, es sei.
    Und die gab solche Stärke an das Tier,
    Dass es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn.
    Zu einer Jungfrau kam es weiß herbei –
    Und war im Silberspiegel und in ihr.
    Um etwa 400 v.Chr. beschrieb Ktesias, ein griechischer Arzt in Diensten des persischen Herrscherhauses, in seinem Werk Indica das Einhorn als ein Tier so groß wie ein Pferd oder größer, mit weißem Körper, rotem Kopf und blauen Augen. Es ist sehr schnell und stark. Man kann es nicht lebend fangen. Das Horn ist lang mit schneeweißer Wurzel und leuchtend roter Spitze. Trinkt man aus dem Horn, so schützt das vor Gift und Krämpfen. Ziemlich genau 2400 Jahre später, am 12. September 2001, nannte Professor Dr. Herbert Hagn, der sich intensiv mit diesem Fabeltier beschäftigt hatte, »das Einhorn ein Fabeltier, dem auch der schärfste Verstand nichts anhaben konnte«. Das war in einem Vortrag in der Paläontologischen Staatssammlung München.
    Herbert Hagns Urteil ist berechtigt. Mit keinem Fabeltier, der Drache vielleicht ausgenommen, hat man sich in der Neuzeit mehr befasst als mit dem Einhorn. Es übt eine merkwürdige, schwer nachvollziehbare Faszination aus. Was aber soll an diesem Tier – um ein Tier handelt es sich zweifellos – so besonders sein? Dass es (nur) ein Horn trug?! Alles Übrige, was der kurzen Beschreibung von Ktesias zu entnehmen ist, war doch sehr normal, fast gewöhnlich: Pferdegröße, Schnelligkeit und Aussehen. Nicht einmal der Zusatz, dass ein Trank aus seinem Horn vor Gift schützt, verrät Besonderes. Es entsprach dem Volksglauben, dass es Mittel gegen Gift gibt. Auch unsere Zeit bedient sich alter Volksrezepte bei (leichten) Vergiftungen. Glaube, Aberglaube und echte Wirkung lassen sich im medizinischen Bereich bekanntlich nicht immer so recht voneinander trennen. Hagn hatte dennoch gute Gründe, den Stand der Kenntnisse über das Einhorn wie oben zu charakterisieren. Zu viel wurde nachträglich mit dem Einhorn verbunden, ihm angedichtet oder uminterpretiert.
    Nur ein Befund steht zweifelsfrei fest: Es gibt keine Fossilien vom Einhorn. Um ein ausgestorbenes Tier, etwa wie im Falle der Schädel von Zwergelefanten der Mittelmeerinseln, die als einäugige Menschen von riesenhafter Größe, als Zyklopen, gedeutet worden waren, hatte es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gehandelt. Die vermeintlich konkreten Belegstücke für sein Horn sind leicht als Stoßzähne des im Nordpolarmeer lebenden Narwals ( Monodon monoceros ) zu identifizieren. Carl von Linné kannte und benannte diesen Delphin-Verwandten im Jahre 1758, was Zahlungskräftige und Gutgläubige nicht davon abhielt, den teuer erworbenen Narwalzahn für das Horn des Einhorns zu halten. Warum sich so ein Zahn (!) als Täuschung für ein Horn (!) eignete, ergibt sich aus der näheren Betrachtung der Beschreibung des Einhorns. Es war seit dem späten Mittelalter ähnlich wie ein Hirsch dargestellt worden und nicht mehr pferdeartig wie ursprünglich. Das Hirschgeweih besteht aus einer grundsätzlich ähnlichen Knochensubstanz wie der Narwalzahn, der ein zwar besonderer, nichtsdestotrotz aber ein echter Zahn ist, nämlich hauptsächlich aus Kalziumphosphat. Gebildet wird das Geweih jedes Jahr neu. Eine besondere, reich durchblutete Haut, der Bast, nährt das Wachstum. Von alters her gilt dieser Bast als etwas Besonderes. In der chinesischen Volksmedizin hat sich seine Verwendung bis heute erhalten; vor allem wegen der angeblich erotisch anregenden Wirkung. Das aus dem Bast hergestellte Pulver gilt als

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