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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H. Reichholf
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Erotik verbunden war, und, wie ich noch ausführen werde, einfache Versionen davon auch heute noch auf Jahrmärkten angeboten werden, hilft eine Auflistung der dafür bezeichnenden Eigenschaften vielleicht weiter. Der Vogel musste (1.) in Griechenland vorgekommen sein, und zwar nicht in irgendwelchen entlegenen Orten, sondern (2.) in der Umgebung der Menschen, so dass er gut bekannt war. Sein Gefieder soll (3.) tarnend rindenartig und seine Haltung mitunter (4.) phallisch starr aufrecht gewesen sein. Seine Zunge war (5.) auffällig lang, seine Stimme (6.) wohlklingend wie Flötentöne und (7.) in der Dämmerung oder in den frühen Nachtstunden zu hören. Diese Merkmale lassen sich Theokrits Beschreibung und anderen Quellen entnehmen.
    Der Wendehals erfüllt zwar fünf der sieben Kriterien, aber eben die beiden letzten ganz und gar nicht. Diese sind jedoch zweifellos sehr wichtig. Auf eine ganz andere Vogelart treffen fast alle Eigenschaften zu. Es ist dies die Zwergohreule ( Otus scops ). Sie kommt verbreitet in Griechenland vor, lebt am Rande der Siedlungen in Hainen und lichten Wäldern, trägt ein rindenfarbenes Gefieder, richtet sich, wenn sie sich entdeckt fühlt, steif auf und ruft in der späten Dämmerung sowie oft weit in die Nacht hinein vorzugsweise im Duett zwischen Männchen und Weibchen. Ihre Rufe klingen klar, hell und wie mit einer Flöte (Okarina) gepfiffen. Sie als sehnsuchtsvoll zu empfinden fällt nicht schwer. Einzig die lange Zunge passt nicht dazu, außer man möchte den Schnabel als eine heraushängende Zunge deuten. Fast so gut wie der Wendehals kann sie den Kopf drehen und, ohne die Sitzhaltung zu ändern, nach hinten schauen. Ihre Kopfbewegungen wirken übertrieben und belustigend. Mitunter scheint die Zwergohreule höfliche Knickse zu machen. Dass sie nicht menschenscheu ist, beweist ihr heutiges, im Mittelmeerraum weit verbreitetes Vorkommen. Die von den Menschen geschaffenen offenen, an größeren Insekten reichen Flächen kommen der kleinen Eule sehr zugute. Sie nistet in Höhlen alter Bäume. Die höhlenreichen Ölbäume sind dafür besonders günstig. Aber auch Höhlungen in Gebäuden nimmt sie an, wenn diese in der Größe geeignet sind. Die Partner eines Paares gehen aus menschlicher Sicht sehr liebevoll miteinander um. Sie beknabbern einander am Gesicht, was wie ein Küssen aussehen mag, und sie schmiegen sich oft dicht zusammen wie ein schmusendes Paar. Kleine Papageien, die sich ganz ähnlich verhalten, sind in unserer Zeit deshalb »Unzertrennliche« und »Love Birds« genannt worden.
    Eulen waren im Alten Griechenland sehr geschätzte Vögel. Die Eule symbolisierte die Weisheit von Pallas Athene. Somit erfüllt die Zwergohreule mit der einen Ausnahme der langen Zunge alle Kriterien für den Jynx. Warum kam man nicht auf sie, sondern auf den Wendehals? Sicherlich nicht nur deswegen, weil er tatsächlich als Angehöriger der Spechte eine sehr lange Zunge hat, mit der er Ameisen aus ihren Nestern holt. Das geht sehr schnell, ist selten bei Beobachtung mit dem Fernglas und ohne so ein Hilfsmittel sicherlich nur ausnahmsweise zu sehen. In der Bruthöhle überrascht, zischt der Wendehals und bewegt seine Zunge schlangenartig. Ob das für einen Liebeszauber reicht, ist auch unter Berücksichtigung der damaligen Sitten im Alten Griechenland ziemlich fraglich.
    Betrachten wir daher einen dritten Kandidaten. Ein weiterer in Griechenland verbreiteter Vogel weist Eigenschaften auf, die mit dem Wendehals gut übereinstimmen: Rindenfarbenes Gefieder, erstarrte Haltung, wenn er sich entdeckt fühlt, Vorkommen in lichten Wäldern mit dürftigem Bewuchs am Boden und ausgestattet mit der Fähigkeit, den Kopf auffällig zu (ver)drehen. Er fliegt in der Dämmerung geisterhaft zwischen den Bäumen. Und er trägt einen besonderen, aus der Antike stammenden Namen: Ziegenmelker, Caprimulgus . Drohend öffnet der gänzlich harmlose Vogel seinen Schnabel wie das Maul einer großen Schlange. Seine Zunge verstärkt den Schlangeneindruck. Er brütet und ruht tagsüber am Boden. Sein Gefieder tarnt ihn so gut, dass man ein oder zwei Schritte neben ihm vorbeigehen kann, ohne ihn zu entdecken. Er bleibt dabei unbeweglich sitzen. Brachten die Ziegen am Abend zu wenig Milch, hieß es, der Ziegenmelker habe sie ihnen tagsüber genommen. Sein Maul zeige das.
    Schwierigkeiten macht beim Ziegenmelker aber wiederum der Gesang. Was dieser Vogel von sich gibt, ist ein hölzernes Schnurren, das ohne Unterbrechungen

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