Einmal Paradies und zurück
scheine. Zum Glück ohne den Geruch nach Urin und gekochtem Kohl. Aber während sich meine Augen an das Licht gewöhnen und ich mir die Umgebung genauer anschaue, gewinne ich immer mehr den Eindruck, dass Dad und ich uns in einer Art Tagespflege befinden. Er sitzt auf einem Sofa ganz hinten und beobachtet mich fürsorglich, aus dem Fernseher dröhnt das Pferderennen aus Cheltenham. Außer uns sind noch vier oder fünf Leute da, und alle starren gebannt auf die Flimmerkiste. Ich fasse mir ein Herz und wandere ein bisschen im Raum umher. Keiner beachtet mich oder nimmt Blickkontakt mit mir auf, alle sind viel zu sehr in das Rennen vertieft. Nur ab und zu schreit einer: »Los, Northern Dancer!«
Übrigens ist außer Dad keiner der Anwesenden unter achtzig.
Ich trotte zurück zu ihm und lasse mich benommen neben ihn aufs Sofa fallen.
»Hast du gedacht, es wäre alles voller Flauschwolken und Engel, mein Mäuschen?«, fragt er leise und hat damit genau meine Gedanken erraten. »Vergiss nicht, das hier ist nur vorübergehend. Du bist zu uns gekommen … na ja, sagen wir mal, du bist gekommen, bevor es Zeit für dich war.«
»Und ich bin … ich bin bloß hier, bis … bis man mich
bewertet
hat?«
»Aber deswegen brauchst du dir wie gesagt überhaupt keine Sorgen zu machen.«
»Und … na ja … wann wird das passieren?«
Er antwortet nicht sofort, sondern sieht mich nur scharf an.
»Alles zu seiner Zeit.«
»Aber angenommen, sie schicken mich weg von dir? Ich meine, du bist doch bestimmt im Himmel, du hast ja in deinem ganzen Leben nie was Falsches getan. Aber ich hab jede Menge Mist gebaut und … na ja, was ist, wenn sie uns trennen? Stell dir vor, du musst wieder nach oben, und ich schmore für den Rest der Ewigkeit in der Hölle?«
Er lächelt über meine Panik und das weinerliche Zittern in meiner Stimme, was mich seltsamerweise tröstet.
»So funktioniert das nicht, Mäuschen. Vertraust du deinem alten Dad etwa nicht?«
»Natürlich vertrau ich dir«, schluchze ich. Gott, ich höre mich wahrscheinlich an, als wäre ich ungefähr fünf Jahre alt.
»Dann komm und setz dich zu mir. Wir haben uns eine Menge zu erzählen, Mäuschen.«
Ich weiß nicht genau, wie viel Zeit vergeht. Irgendwie scheint hier alles stillzustehen. Ich weiß nur, dass es mir vorkommt, als würde ich mich eine halbe Ewigkeit mit Dad unterhalten, völlig vertieft. Inzwischen bin ich etwas ruhiger, aber ich umklammere immer noch Dads Hand, denn ich will ihn auf gar keinen Fall wieder verlieren. Das wür- de ich nicht aushalten. Diesen unerträglichen Schmerz ertrage ich nicht noch einmal. Ich fühle mich neben ihm so sicher und geborgen, wenn er bei mir ist, brauche ich mir keine Sorgen zu machen.
So lange man mich bei ihm bleiben lässt.
Je mehr wir reden, desto mehr komme ich ins Staunen. Es ist unglaublich – Dad weiß alles über unser Leben, bis ins kleinste Detail. Ihm ist nichts von dem entgangen, was bei uns passiert ist, und er ist immerhin schon zehn Jahre tot. Ich war achtzehn, als er gestorben ist, und ich weiß noch, dass ich dachte, die Leere, die sein Tod in meinem Leben hinterlassen hat, würde sich niemals wieder füllen lassen und ich würde nie einen Mann kennenlernen, der ihm das Wasser reichen könnte. Beides korrekt – die Leere ließ sich nicht füllen, und ich habe auch nie so einen Mann kennengelernt. Es ist fast, als würde unser kleines Leben auf der Erde rund um die Uhr mit Videokameras beobachtet und live nach hierher übertragen. Das Weltraumzentrum in Cape Canaveral ist nichts dagegen …
So ist Dad bestens informiert über Kates Ehe mit Perfect Paul, er weiß, dass sie verzweifelt versucht, schwanger zu werden, und er kennt auch unwichtige Details, wie zum Beispiel, dass Mum einem Buchclub beigetreten ist und jetzt so tut, als hätte sie die gesamte Weltliteratur gelesen. Dabei checkt sie, wenn ein Buch sie langweilt, einfach nur die Kritiken bei Amazon durch und wirft dann das eine oder andere Zitat in die Debatte, um ihre Freundinnen zu beeindrucken. Dad weiß sogar Dinge über Fiona, obwohl ich sie erst auf dem College kennengelernt habe, kurz nachdem er gestorben ist.
»Dad«, stammle ich immer wieder, abwechselnd schluchzend und lächelnd, während ich seine großen Pranken drücke, ständig in der Angst, dass er verschwindet oder ich plötzlich von ihm weggerissen werde. »Ich liebe dich, und ich hab dich so, so sehr vermisst. Ich denke jeden Tag an dich.«
Seltsam. Früher, als er
Weitere Kostenlose Bücher