Einmal Paradies und zurück
noch am Leben war, konnte ich ihm solche Dinge nie sagen, aber jetzt kommt es mir ganz leicht über die Lippen.
»Aber ich bin ja da, Mäuschen. Selbst wenn du es nicht merkst, bin ich immer bei dir«, erklärt er mit einem leisen Lächeln. »Wie in diesem wunderschönen Gedicht, das du bei meiner Beerdigung rezitiert hast. Ich habe euch nie verlassen, ich bin nur ins Nebenzimmer gegangen. Ich bin ganz in deiner Nähe, ich passe auf dich auf, und damit werde ich niemals aufhören.«
»Und Mum und Kate?«
»Also komm, Mäuschen, du kannst doch nicht ernsthaft denken, dass ich die drei tollsten Mädels der Welt auch nur eine einzige Sekunde aus den Augen lasse!«
Nein, nein, natürlich nicht. Er hat uns alle sehr geliebt und war immer am glücklichsten, wenn wir einfach »zu viert unter uns« waren, wie er es immer ausgedrückt hat. Wir alle zusammen. Plötzlich erinnere ich mich, wie ich acht Jahre alt war und ihn ständig genervt habe, weil ich unbedingt mit dem Bus zur Schule fahren wollte wie ein »erwachsenes«, großes Mädchen. Irgendwann hat er nachgegeben, aber ich werde nie vergessen, wie er im Auto hinter dem Bus hergefahren ist, um sicherzugehen, dass mir nichts passiert. Dann fällt mir ein, wie ich mit vierzehn gebettelt habe, mit dem Rest meiner Clique ins
Wesley
, unsere Disco, zu dürfen. Oh, wie peinlich mir das war – er hat mich nicht nur hingefahren, er ist auch noch zum DJ gegangen und hat ihn ausgesucht höflich gebeten, ein Auge auf mich zu haben.
Immer hat er sich gekümmert, hat uns beschützt und nie im Stich gelassen.
»Ich schicke dir manchmal kleine Zeichen«, erklärt er mir lächelnd und drückt meine Hand. »Um dir zu zeigen, dass ich direkt neben dir stehe. Aber deine Mum ist bei weitem am empfänglichsten für so was.«
»Wie machst du das denn?«, frage ich und denke …
Zeichen?
Ist das nicht ein bisschen … ein bisschen wie aus
Unheimliche Begegnung der dritten Art
?
»Da gibt es viele Methoden, du würdest staunen. Manchmal gebe ich ihr irgendwelche Gedanken ein, wie man es manchmal bei der Hypnose macht. Aber am einfachsten ist es, wenn ich warte, bis sie schläft, denn dann kann ich mich mit ihr unterhalten, und sie denkt, es ist ein Traum. Inzwischen hat sie sich so daran gewöhnt, dass ich sie nur ein kleines bisschen anzuschubsen brauche, um sie beispielsweise daran zu erinnern, den Müll rauszubringen oder die Hintertür abzuschließen. Was sie sonst ständig vergisst. ›Hast du schon Öl in die Lampe gefüllt?‹, frage ich sie dann immer.«
Jetzt habe ich einen dicken Kloß im Hals. Diesen Satz kenne ich so gut. Dad hat ihn benutzt, wenn er uns fragen wollte, ob wir auch wirklich auf alle Eventualitäten und Notfälle vorbereitet waren. Ihr wisst schon, Sachen wie: Ist genug Benzin im Tank? Genug Kleingeld im Portemonnaie? Ist der Verbandskasten im Auto? Ist auf der Fahrt zum Flughafen genügend Zeit für ZWEI Reifenpannen eingeplant? (Ihm ist das in den siebziger Jahren tatsächlich mal passiert, und noch Jahrzehnte später hat er dafür gesorgt, dass keiner von uns es je vergisst.) Oder: Hast du dir eine extra Stunde Zeit gelassen, damit du bestimmt pünktlich zu deiner wichtigen Prüfung kommst?
Die Liste war endlos.
»Manchmal, wenn deine Mum ein bisschen traurig ist, dann krieg ich sie dazu, dass sie das Radio anmacht, damit sie …«
»… damit sie sich ›You’re Nobody Till Somebody Loves You‹ anhören kann«, ergänze ich, zwischen Lachen und Weinen hin und her gerissen. »Ich weiß, den Song hört sie dauernd, und sie sagt immer, dass er sie am meisten an dich erinnert.«
Beim Gedanken daran, wie abgöttisch er meine Mutter geliebt hat, füllen sich meine Augen erneut mit Tränen. Sobald Mum ins Zimmer kam, ist er richtig aufgelebt – sogar nach fast dreißig Jahren Ehe. Ich glaube, ich habe nie mitbekommen, dass die beiden gestritten haben. Dad hat Mum nie widersprochen. Manchmal hat er die Augen verdreht, aber er hat sie machen lassen, denn unterm Strich war er einfach glücklich, wenn sie glücklich war. Als meine Eltern sich kennenlernten, gab es vollkommen andere Prüfkriterien für eine Beziehung – aus Feststellungen wie: »Du magst Suppe? Das ist ja unglaublich, ich mag auch Suppe!«, entnahm man, dass man zusammenpasste. Und trotzdem hat es funktioniert, zumindest bei meinen Eltern. Wie so oft gab es auch bei ihnen die Rollenverteilung in den, der liebt, und den, der geliebt wird. Mum ist extrovertiert und gesellig, während
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