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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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daß alle
rund umher Sitzenden ihr bald aufmerksam zuhörten, veränderte sich ihr Tonfall
mit jeder angerufenen Freundin, wurde offensiver, selbstbewußter. Der Verdacht
einer erlittenen Demütigung wich immer mehr der Gewißheit, von dem, was jüngst
geschehen war, mit Stolz berichten zu dürfen.
    »Stell dir vor, was mir grad eben passiert ist! Ich habn Angebot
bekommen. Ausgerechnet ich. Von sonem Typen, der mich eine Stunde lang lecken
will, für hundert Euro. Istn Arab. Ich hätt ihm beinah eine geknallt. Ich hab
ihn dann einfach stehen gelassen. Ja, nich? Jetzt denk ich mir, naja, ne Stunde
Nichtstun, dafür hundert Euro, kann man sich fast überlegen, oder?«
    Viele der Kunden im Coffeehouse reagierten mit abruptem
Schweigen und blickten, von Fremdscham geplagt, zu Boden. Swentjas Freundinnen
äußerten mehrheitlich die Meinung, daß sie das ganz allein mit sich selbst
abmachen müsse. Hundert Euro seien nicht schlecht. Geleckt zu werden sei auch
nicht grundübel und irgendwie auszuhalten. Gesetzt, man könne drauf vertrauen,
daß der Typ sich und seinen Schwanz im Griff hätte und nicht plötzlich
penetrant zudringlich würde.
    »Aber vielleicht will ich ja, daß der Typ mich schlußendlich fickt.
Wär das so abartig?«
    Swentjas Freundinnen äußerten mehrheitlich die Meinung, daß das
schon definitiv grenzwertig sei. Sich für Geld lecken zu lassen, okay, das sei
noch irgendwie nachvollziehbar. Ficken wäre was anderes. Was würde denn Johnny dazu
sagen?
    »Der würde tot umfallen! Weißt du, ich fühl mich enorm gut. Da gibt
es wen, der legt hundert Steine hin, damit er mal ausgiebig an mir knabbern
darf. Das geilt. Und wennsn Arab ist.«
    Die Freundinnen rieten mehrheitlich zur Vorsicht, doch ausnahmslos
alle bestanden darauf, ständig auf dem laufenden gehalten zu werden.
    Für die fünfzehnjährige Swentja waren hundert Euro sehr viel Geld.
Die Aussicht, von einem fast Fremden, der bei genauerem Nachdenken gar nicht so
unattraktiv aussah, geleckt, begehrt und, vor allem, bezahlt zu werden,
euphorisierte sie. Es würde das erste Mal sein, daß sie ihren
Jesus-liebt-mich-Johnny hinterging. Nie zuvor hatte es für ihren im strengen
Sinn noch jungfräulichen Intimbereich ein ähnlich offensives Angebot gegeben. Auf
Johnny war Swentja ohnehin sauer, er hätte sie längst haben können. Seine
Schuld, wenn er förmlich und klemmig und romantisch bis impotent tat, von einer
bevorstehenden Heirat phantasierte, nach der alles rundum anders sein würde,
weil für immer geregelt. Swentja war der Meinung, durch die Verbindung zu
Johnny, die nun fast sieben Wochen dauerte, im Leben bereits zu viel verpaßt zu
haben. Anfangs war er ihr erfrischend anders erschienen. Jetzt wirkte er nur
noch langweilig. Und sein Religionstick! Nein, sie liebte ihn nicht richtig.
Das stand ein für allemal fest. Sonst würde sie an der Offerte dieses frechen
Arabers doch gar nicht so lang herumüberlegen. Die Einsicht forderte
Konsequenzen, in Wort und Tat. Just in diesem Moment erschien Johnnys Nummer auf
dem vibrierenden Handy. Swentja drückte ihn weg. Pfeif auf ihn. Swentja rief
den Araber an. Johnny hatte immer noch Jesus, der ihn liebte.
    »Ey, Mahmud! Meinst du den Deal ernst?«
    Auf die Gesichter etlicher Coffeehouse-Kunden stahl sich ein
verschämt-verschmitztes Lächeln, das da und dort in pures Grinsen überging.
Andere fanden, definitiv mehr gehört zu haben, als ihnen genehm war, und riefen
nach der Bedienung, um schnell zu zahlen und zu gehen.

5
    Janine, siebenunddreißig, liebte ihren Beruf und war, wie
sie auch selbst fand, eine verdammt gute Tänzerin. Fünf Jahre lang war sie am
Darmstädter Dreispartentheater die Primaballerina gewesen, bevorzugt in
modernen, unkonventionellen Produktionen. Sie hatte während jener Zeit ebenso
Lob wie Ablehnung erfahren; ihre Art zu tanzen galt als einigermaßen speziell
bis gewöhnungsbedürftig, was unter anderem daran lag, daß sie hin und wieder,
ungefähr in jeder dritten Vorstellung, leichte epileptische Anfälle bekam,
nichts Schlimmes, etwas in der Art, wie andere Menschen sich kurz den Fuß
ausschütteln müssen, nachdem sie ein pseudoelektrisches Schnalzen im Knie
spüren. Die Ärzte konnten nichts Konkretes entdecken, hielten es aber für
möglich, daß es sich um einen Nerventick oder um ein frühes Symptom von Multipler
Sklerose handeln konnte. Weiteres würde die Zeit erweisen, womit sie das
Problem elegant an jene Instanz delegierten, die immer recht behält.

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