Einundzwanzigster Juli
Turm gezogen ... Mutter Kuhn ist in Dachau befreit worden und mit ihrem Mann in Geppingen ... Tante Helma hat geschrieben, sie komme vorläufig nicht ...«
Es ist Mitte Juli, ich sitze auf meinem Baumstumpf, die Beine angezogen und die Arme darum geschlungen, und halte mich an die Abmachung.
»Gestern ist das Kindermädchen zurückgekommen. Bernadette. Wir können sie nicht bezahlen, aber sie will trotzdem bleiben ... Mutter hat eine Nähmaschine geliehen und arbeitet für die Franzosen. Sie sind nett zu uns, weil sie wissen, was Widerstand bedeutet ... so nennt man Onkel Georg jetzt nämlich: Widerstandskämpfer . «
»Heute habe ich Max geschrieben. Er ist in einem Lager bei Frankfurt. Ob er wohl antwortet? Die Geppinger haben eine KisteObst und Gemüse aus ihrem Garten geschickt, in unserem wächst ja noch nichts, weil die Gestapo ihn beschlagnahmt, aber nichts angebaut hatte ... Nelly und ihre Kinder ziehen ins Forstwartshaus, Nelly geht der Trubel im Schloss auf die Nerven ...«
»Langsam muss ich anfangen, an die Schule zu denken, aber passende Schulen sind weit und ich müsste ins Internat ... Will ich das? Werde ich es machen?«
Es ist Ende Juli und heiß, nicht der kleinste Windhauch ist zu spüren. Letztes Jahr um diese Zeit war es genauso.
Natürlich machst du’s, Klexchen.
Dabei habe ich anfangs nur Stimmen gehört, die nicht zu mir redeten.
Du solltest übrig bleiben, Lexi.
Ich hab’s nicht geschafft, Yps.
Wäre am liebsten auf der Stelle umgekehrt und hätte mich davongeschlichen. Aber ich konnte mir vorstellen, was Lexi dazu gesagt hätte.
Wozu weglaufen? Du kommst ja doch zurück!
»Nelly hat zum ersten Mal gefragt, wie ihre Mutter gestorben ist. Finden werden wir Tante Adele wohl nie, Danzig ist Sperrgebiet ... aber wir vermuten ohnehin, dass sie verbrannt wurde.«
»Eine schreckliche Nachricht heute! Baron Guttenberg, Tante Sofies Bruder, ist tot. Sie haben ihn und andere in den letzten Kriegstagen aus der Zelle geholt und einfach erschossen ... arme Tante Sofie ... Vaters Name war nicht darunter ...«
Es ist Mitte August und auf Japan sind amerikanische Bomben von solcher Zerstörungskraft gefallen, dass der Krieg im Pazifik augenblicklich beendet war. Auch die Russen behaupten, solche Bomben zu bauen. Russen und Amerikaner drohen einander jetzt ganz offen.
»Es wird doch nicht wieder Krieg geben? Fey und Detalmo suchen immer noch nach ihren Söhnen, mit Steckbriefen und übers Rote Kreuz, und sie haben uns Plakate zum Aufhängengeschickt, falls die Kinder nach Deutschland entführt und adoptiert wurden. Fey hat Angst, dass die beiden sich an ihren richtigen Namen nicht mehr erinnern, klein, wie sie sind ...«
»Post von Julius! Bei Kuhns hat sich jemand gemeldet, der Nannis Verlobten letztes Jahr in einem Gefängnis des NKWD, des sowjetischen Volks-Kommissariats, gesehen haben will ... hoffentlich nur ein Gerücht. Mutter überlegt, sich nach Berlin durchzuschlagen, um etwas über Vater in Erfahrung zu bringen ...«
»Stell dir vor, jetzt schreibt uns die Pattke! Sie bittet um eine Bescheinigung, dass sie sich nichts zuschulden hat kommen lassen ... sie, als Aufseherin in Stutthof! Nelly hat auch eine Anfrage von jemandem bekommen, aber gar nicht erst geantwortet.«
Es ist Ende August und ich renne so schnell den Berg hinauf, dass ich mehr japse als spreche: »Ein Brief von Vater! Er ist unterwegs! Ich habe Angst!«
Die Franzosen haben sogar einen Wagen geschickt, um meinen Vater abzuholen. Unsere übergangslose Verwandlung von Verrätern zu Befreiten, von Befreiten zu Besiegten, von Besiegten zu Angehörigen von Widerstandskämpfern geht mir ein wenig zu glatt, um der Sache schon zu trauen, aber der Respekt, mit dem der französische Offizier meinen Vater zum Abschied grüßt, wird wenigstens eine schöne Erinnerung werden.
Was ist in Mutter gefahren? Mich schubst sie vor, ihn als Erste zu begrüßen! Dabei zittert sie am ganzen Körper und die kleinen Mädchen haben Blumensträuße in der Hand und vor Aufregung rote Wangen; ganz genau haben sie, glaube ich, nicht verstanden, wer da eigentlich zurückkehrt.
Die kratzige Wange fühlt sich an wie die von Max, also immerhin ein wenig vertraut. Vater sagt ganz erstarrt: »Mein Gott, ist das Fritzi?«
Schon auf dem Weg in den Garten, wo unter der Blutbuche der Kaffeetisch gedeckt ist, bin ich so erschöpft von allem, was ichgleichzeitig fühle oder auch nicht, dass ich mich am liebsten zusammenrollen und erst einmal
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