Einundzwanzigster Juli
Verona erwartete uns am späten Abend ein fürstliches Mahl aus Brathuhn und Spargel, zum Nachtisch Eis. Überhaupt schien die Freiheit in den ersten Tagen hauptsächlich aus Essen zu bestehen: Pancakes , Speck, Rühreier und süßer weißer Toast, Orangenmarmelade, Fleisch, das in eingefrorenen Portionendirekt aus Amerika kam, Zigaretten, Kaugummi und alle Arten von zuckrigem Obst in Dosen.
»Die mussten den Krieg ja gewinnen«, meinte ich. »Bei der Verpflegung!«
»Psst! Bist du still!«, zischte Mutter entsetzt, während man um uns herum in unterdrücktes Kichern ausbrach. Dabei hatte ich doch nur die Überlegenheit einer Nation rühmen wollen, die solche Schätze zu bieten hat! Eine Überlegenheit, die in jeder Geste uns gegenüber auf freundliche, selbstverständliche Weise zum Ausdruck kam.
Am nächsten Morgen flogen sie uns nach Neapel und schon am Flughafen stürzte sich die internationale Presse auf uns. Wir kannten dies bereits aus Prags, wo die Fotografen am Tag nach der Ankunft der Amerikaner eingefallen waren. Schuschnigg von vorn und von der Seite, Schuschnigg mit Frau, Schuschnigg mit Kind; Niemöller mit und ohne Bibel; Prinz Leopold von Bayern, wie er sitzt, steht, denkt, redet. Andere Kulisse, dieselben Bilder. Unterdessen verteilten Ladys des Red Cross , die wie Filmstars aussahen, Kulturbeutel mit Waschlappen, Zahnbürste, Zahnpasta und Seife, und sie taten dies nicht ahnend, dass sie das Luxuriöseste verschenkten, das man je bekommen hatte. (Es dauerte Tage, bis ich es übers Herz brachte, die duftende Seife anzubrechen.)
Und schlagartig, von einer Sekunde auf die andere, war es vorbei mit unserem kleinen Völkerbund.
»German?«, fragte ein Posten, der uns jählings in den Weg trat, als es hinaus zu den Bussen gehen sollte. »Please wait over there.«
Der eine oder andere mitfühlende Blick traf uns noch aus der großen Gruppe der Befreiten, in der wir uns bis eben so vertraut bewegt hatten. Aber es war nicht zu übersehen, dass wir auch für die Engländer, Franzosen und Ungarn, die nun an uns vorbei und zum Hotel gefahren wurden, mit einem Mal wieder Germans geworden waren – und selbstverständlich anders zu behandeln als die Nationen, die sich zu den Siegern des Krieges zählen durften.
Mit starrem Lächeln winkten wir den anderen Good-bye. Als wir etwas später im Hotel eintrafen, waren unsere bisherigen Gefährten im einen Stockwerk untergebracht, wir Deutschen im anderen, und im Treppenhaus standen Posten mit Maschinenpistolen, um jeden Kontakt zwischen uns zu unterbinden.
Wir sahen die anderen nicht wieder. Tags darauf ging es für die Germans auf die Fähre nach Capri, wo unzählige Befragungen auf die Erwachsenen warteten und es eine ganze Woche dauerte, bis sie einem Teil von uns gestatteten, das Hotel mit seinen vergitterten Fenstern zu verlassen. Wir durften durch die Stadt spazieren, die wir schon sehnsüchtig aus unseren Zimmern beguckt und beschnuppert hatten, am Strand sitzen, im Sand liegen ...
... und zusehen, wie sie unseren anderen Teil – Oberst Bonin, den Prinzen von Hessen und sämtliche Berufsoffiziere – verhafteten und abführten. Kaum den Lagern der Nazis entronnen, waren sie nun Gefangene der Alliierten.
Das Hochgefühl, Frieden zu erleben, mochte sich danach kaum noch einstellen. Waren wir befreit ... oder besiegt? Weder das eine noch das andere passte, und eines Morgens wachte ich mit der Entdeckung auf, dass ich mich auf die Uferpromenade nicht mehr freuen konnte und kaum weniger dringend nach Deutschland zurückwollte als Ina und Tante Ilselotte. Deren Verzweiflung wuchs von Tag zu Tag. Anstatt nach ihren Kindern suchen zu können, befanden sie sich auf einer Insel im Meer – abgeschnitten von allen Möglichkeiten, etwas zu unternehmen.
Wenigstens für Fey nahm die lange Zeit des Wartens ein Ende. Ihr Mann Detalmo holte sie persönlich in Capri ab und ließ es sich nicht nehmen, unsere ganze Familie zu einem großen Abendessen einzuladen. Immer wieder musste ich die beiden ansehen. Sie wirkten so unglaublich jung! Nach zwei Wochen Sonne und reichlichem Essen war Fey fast wieder so hübsch wie an dem Tag, als sie in Reinerz zu uns gestoßen war, und nur die scheuen, nach Vertrautem suchenden Blicke, die sie ihrem Ehemann während desEssens zuwarf, ließen ahnen, dass ihr in der Zwischenzeit etwas Ungeheuerliches zugestoßen war.
Etwas, das wir – und nicht er – mit ihr geteilt hatten. Julius und ich begleiteten die beiden am nächsten Morgen
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