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Eis

Eis

Titel: Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kosch
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sich in früheren Zeiten solche Ereignisse auch in unserer Gegend begeben haben. Und schließlich: allein schon die Tatsache, daß es seit zwanzig Tagen nicht mehr geschneit hat und daß die Durchschnittstemperatur der letzten drei Tage um ganze zwei zehntel Grade über der der vorausgegangenen Tage liegt, rechtfertigt optimistische Prognosen und alle Hoffnungen, die wir auf die kommende Woche setzen. Darum sollte man alarmierenden Stimmen, die sich auf Grund unfachmännischer Meinungen einzelner Laien, Amateure, ja selbst Scharlatane der Meteorologie verbreiten, keine Aufmerksamkeit schenken.
    Das bezog sich offensichtlich auf Koljitzki. Indessen – obwohl die gesamte Presse und alle maßgebenden, verantwortlichen meteorologischen Institutionen auf der Seite des ersteren standen, wurde der andere, der in einem verschlissenen schwarzen Mantel die Kneipen und Kaffeehäuser abklapperte, dürr, gelb, bärtig, schwarze Nachrichten verbreitend und düstere Perspektiven prophezeiend, von den Menschen immer lieber angehört, eingeladen und zitiert. Nichts zu machen: die Menschen waren unruhig geworden, und in diesem Zustand lassen sie sich lieber erschrecken als trösten. Die Beunruhigung stellt an sich schon eine Art Mobilisierung des Widerstandes dar, während die Tröstung die gegenteilige Wirkung hat. Außerdem – das öffentliche und Amtliche ist für gewöhnlich alt und bekannt und somit ohne Erkenntnisreiz, das andere hingegen, das Geheime, meistens in den Schleier der Neuigkeit gehüllt.
    Und darum – während der erste, der Professor Liebling, über die Seiten der Zeitungen und über die Rundfunkwellen herrschte und genau zu jener Zeit auch noch zum Akademiker und Universitätsprofessor berufen wurde, dominierte der zweite immer mehr auf dem Felde der wenn auch nicht öffentlichen, so doch allgemeinen Meinung. Und das nicht nur auf der Straße und in den Gasthäusern, in denen er sich am meisten aufhielt. Zuerst verschämt, dann immer feuriger und offenherziger begannen auch diejenigen ihn abends in ihren Gesellschaftskreisen zu erwähnen, die morgens auf Liebling geschworen hatten. Dieser war offiziell – aber der andere war in Mode gekommen, was bedeutend mehr ist und oft auch viel wichtiger. Auch seine Fotos erschienen in den Zeitungen, und bei deren Betrachtungen fanden manche Frauen, er sei sogar interessant. „Er sieht Rasputin ähnlich“, sagte die ältere weibliche Generation, während die jüngere fand, er sei ein intellektueller Typ, ein Mittelstück zwischen Clochard und Existentialist. „Als war er einem Stück von Beckett entstiegen“, sagte die Genossin Dara, während sie Frau Krekić von ihm erzählte. „Weißt du, es ist wirklich schade, daß du nicht zu Raca gekommen bist, um auch ihn zu sehn. Er ist viel unterhaltsamer als dieser Liebling. Ich bin sicher, du könntest Duschko davon überzeugen, daß man ihn einladen müßte. Was er nur für feurige, fiebrige Augen hat! Das Gesicht eines eingefleischten Gläubigen, Kämpfers und Fanatikers. Er sagte, alle diese Nöte mit dem Schnee und dem kalten Wetter seien wegen uns eingetreten; weil wir die Fähigkeit verloren hätten, uns zu freuen und zu lieben, zu leiden und uns zu opfern. Unsere Kälte und Gleichgültigkeit sind auf die Natur übergegangen; das Eis in unseren Herzen ist zum Kern geworden, um den sich neues Eis bildet, wie Krebszellen eine aus der anderen hervorwachsen und sich entwickeln. Wir haben uns in uns selbst verschlossen, wir können nicht einmal mehr ehrlich und frei lachen, dauernd verteidigen wir uns gegen etwas, wir geben uns niemandem hin und glauben niemandem, wir schrecken vor allem zurück, sind egoistisch, kümmern uns nur um unsere eigene Haut, unsere nächsten Interessen sind das fundamentale Gesetz unseres Verhaltens, alles andere ist uns unwichtig oder zumindest nebensächlich. Und so weiter. Er hat uns tüchtig ausgeschimpft; er hat gesagt, wir sind schlimmer als seine Bekannten von der Straße und aus den Kneipen. Die verstecken sich wenigstens nicht und haben nichts zu verbergen. Wir aber hüllen uns in große humanitäre Phrasen, aber in Wirklichkeit sind wir unempfindlicher als das Eis um uns her. Wir erzählen in einem fort etwas von unserem intellektuellen Gewissen und unserer Verantwortung, berufen uns auf unser Ehrgefühl und auf die intellektuelle Freiheit, bestellen uns selbstherrlich zu Sittenrichtern der ganzen Welt, und in Wirklichkeit müßte man über uns zu Gericht sitzen, weil wir selber

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