Eis
war schwach und flimmerte. Sie hörten den Worten zu, während sie in ihre Stiefel oder Schuhe schlüpften, wobei der eine oder andere unabsichtlich etwas kräftiger auf den Fußboden aufstampfte. Aus dem Duschraum waren das Rauschen des Wassers, Stimmen und das Gelächter der jüngeren Kollegen zu hören. „Es klingt wie ein Wehrmachtsbericht“, sagte der Heizer Mazura und nahm seinen Mantel vom Haken: „Um besser vordringen zu können, haben wir uns auf die Ausgangsstellungen zurückgezogen …“
Zu zweit traten sie auf den verödeten, dunklen Bahnsteig hinaus. Nur wenige Menschen reisten, und die Direktion sparte am Strom. Kein Geschrei von Gepäckträgern, kein Zischen von Lokomotiven. Nur von oben, irgendwoher, meldete sich ein Lautsprecher: „Der Zagreber Zug Nummer eins verspätet sich bis jetzt um zweihundertfünfundvierzig Minuten.“
„Was ist das wieder?“ fragten sie im Vorübergehn auf der Türschwelle in eins der beleuchteten Büros hinein: „Es wird doch nicht wieder Schnee sein?“
„Nichts Besonderes“, hieß es. „Wie sonst auch …“
Sie gingen weiter und erzählten sich was; so kam es ihnen hier weniger wüst vor. Früher war der Bahnhof um diese Zeit gestopft voller Menschen gewesen, ständig waren zwei, drei Züge eingefahren.
„Was kann das sein?“ fragte der eine. „Erst am Morgen sind die Schneepflüge wieder durchgefahren, und heut hat es doch nicht geschneit.“
Der andere schwieg. „Sie fahren langsamer“ meldete er sich schließlich, den Blick auf den Boden gerichtet. Sie überquerten die Geleise, um den Weg abzukürzen. „Sie dürfen nicht schneller. Vor drei Tagen ist wieder einer von den Schienen gerutscht.“
„Drei Tote, zehn zerstörte Wagen. Aber warum? Der Schnee war fortgeschafft, die Strecke war frei.“
Sie blieben unter einer Laterne stehen. Der eine schaute aufmerksam vor sich nieder, dann begann er mit den Spitzen seiner Schnürschuhe an die Schienen zu schlagen. „Darum!“ sagte er. Im Lichtschein funkelten die Schienen wie geölt und glänzten wie Aale. „Darum ist er ausgerutscht.“
Sie bückten sich, und der erste tastete mit der Hand die kalte, glatte, unebene Schiene ab.
„Eis!“ sagte er. „Woher schon wieder? Erst heut morgen haben wir’s weggeschafft.“
„Eis!“ bestätigte der andere. „Das Eis wirft die Züge aus den Schienen.“
Sie gingen weiter. Irgendwo in der Ferne pfiff etwas auf, wie ein einfahrender Zug. Es war nur der Wind – der hatte bald den Bahnhof erreicht und schaukelte die Glühbirnen. Danach war es wieder still. Die Männer passierten die Zollstation und verließen den Bahnhof durch das große Tor.
„Zwei-, dreimal haben wir heut die Schienen frei gemacht“, meldete der erste sich wieder. „Morgens und mittags, und seither ist nichts gefallen.“
Der Ältere schwieg eine Zeitlang, dann blieb er wieder stehn und sah den anderen an. „Das frag ich mich auch“, sagte er, „schon seit ein paar Tagen. Weißt du, ich will dir was sagen: Mir scheint, das Eis wächst von unten herauf, aus der Erde.“ Sie hatten die Straße erreicht und gingen ein jeder in seine Richtung. Beide mit gesenkten Köpfen, den Blick an die Stiefelspitzen geheftet, beschäftigt mit ihren einsamen, besorgten Gedanken.
Und so tagaus, tagein. Es war schon Ende April, und der Schnee lag in einem fort auf der Erde, überzog mit seiner einförmigen weißen Decke, und wenn auch keiner vom Himmel fiel, sah es doch tatsächlich so aus, als wachse er von unten nach, ganz von selbst, wie ein weißer, gut aufgehender Teig.
Die meteorologischen Berichte des Professors Liebling waren auch weiterhin, optimistisch. Über Rundfunk und Presse überzeugten sie die Welt, daß das, was da geschah, nichts Besonderes und nichts Ungewöhnliches sei. Der Winter hat spät begonnen, und es ist in Ordnung, daß er sich nun austobt. Wenn man den Frost und die Schneemenge statistisch mit früheren Jahren vergleicht, wird man sehen, daß es diesmal trotz allem etwas weniger Schnee und Frost, höchstens ein klein bißchen mehr gibt. Außerdem ist es nicht das erste Mal, daß der Schnee so lange liegenblieb. Ein ähnliches Phänomen ist vor dreiundsechzig Jahren in Niedersachsen vorgekommen, vor einhundertundsieben Jahren ist im oberen Turkmenien der Schnee sogar bis Juni liegengeblieben, und aus einer von unbekannter Hand stammenden mittelalterlichen Chronik, in der von Frost und Schnee am Tage des heiligen Veit die Rede ist, kann geschlossen werden, daß
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