Eis
daß sogar die großen Erdölbrände ausgerechnet durch Explosionen gelöscht werden, die an der Brandstätte eine dicke Eisschicht zurücklassen. Schließlich – wenn wir uns gefühlsmäßig psychisch ausgelebt und entleert haben, verlöschen wir von innen her und werden dann auch jenen Frauen gegenüber kühl, die wir am leidenschaftlichsten geliebt haben; das nur zum Vergleich und zum leichteren Verständnis des gegenwärtigen geophysikalischen Phänomens.
Es gab Leute, die der Ansicht waren, daß unsere Nöte mit dem Wetter durch das maßlose Abschießen von Raketen in die kalten Räume des Weltalls hervorgerufen wurden. Ein Mann, der in einer Gewerkschaftsfiliale einen Vortrag hielt, erklärte das so: ,Das ist euch, als wenn einer dauernd die Tür aufmacht in einem warmen Raum, in dem ihr sitzt. Das ist, als wenn die Motten eure Kleidung derart zerfressen haben, daß sie durchsichtig wird wie ein Sieb. Das ist, als wenn ihr dauernd aus der Pistole in die Zimmerdecke schießen würdet – wär’s da ein Wunder, wenn euch schließlich von oben Frost und Regen auf den Kopf kämen? So ist auch die Atmosphäre eine Art Umhang, der uns vor der Kälte des Weltalls schützt – und bedeutet dieses dauernde Durchlöchern der Atmosphäre nicht etwa, daß wir der Kälte des Alls den Weg öffnen? Wir sind übermütig geworden und bohren Löcher in den eigenen Plafond, wie in Schweizer Käse. Auf der Erde ist es uns zu eng geworden, wie Kindern unter einem Zeltdach, aber ist es ein Wunder, wenn uns draußen, in der Kälte, Beine und Arme abfallen … ?‘“
'Der längste Winter seit Menschengedenken’, das war die allgemein bekannte, allseits akzeptierte, aber auch schon ein wenig langweilig gewordene Bezeichnung für das, was da geschah. In den europäischen Großstädten dauerte die Wintersaison noch an: Theater, Konzerte, Nacht- und sogenanntes Kulturleben, das alles war Ende April in Paris in vollem Gange. Ebenso in London, Brüssel, München, Wien, Rom und New York. Die Menschen lesen und leben am kulturvollsten im Winter, sagte man. Schaut euch nur die nordischen Länder an, besonders Island, wo es schon lange keine Analphabeten mehr gibt und wo im Jahresdurchschnitt die meisten Bücher gelesen werden. Hingegen, die Schweiz bemühte sich trotz ihrer ausgedehnten und geschickten Reklame vergebens, die reichere Welt für ihre Sanatorien, zauberhaften Gebirge und Höhenluft zu interessieren. Die wohlhabenderen Leute, denen der lange Winter im eigenen Lande leid geworden war, strebten lieber nach dem milden, wärmeren, aber nicht mehr heißen Klima Italiens, Spaniens und der französischen Riviera. Das Frühgemüse aus diesen Ländern erreichte auf den nördlichen Märkten nie dagewesene Preise. Der Verbrauch an Heizmaterial erhöhte sich bedeutend, viele Länder führten strenge Beschränkungen ein, während andere im Gegenteil schnell mit dem Problem ihrer hohen Kohlenhalden fertig wurden. Alles das glich sich auf irgendeine Weise aus, getreu der Regel, daß keinem ein Licht aufgeht, bevor es dem anderen dämmert, und die einzelnen kleinen menschlichen Nöte und Mißgeschicke waren ja noch niemals in die großen Welt-Statistiken aufgenommen worden.
Anfang Juni fingen die Menschen sich ernsthaft zu sorgen an. Die Prognosen und Versprechungen des Meteorologen Liebling halfen nicht mehr und überzeugten niemanden mehr. Der ein Meter hohe Schnee, der am Montag, dem fünften Juni, noch immer dalag, sprach eine beredtere und überzeugendere Sprache. Es wurde klar, daß die klimatische Strömung diesmal ernsthafter war, daß man sich den Sommer vielleicht doch nicht so schnell erhoffen durfte und daß dieser, wenn er endlich doch käme, bei so viel Schnee – den die Sonne erst wegschmelzen mußte – in diesem Jahr weder heiß noch lang sein würde. Denn: vom Herbst und vom neuen Schnee trennten uns nur noch fünf, bestenfalls sechs Monate.
Die Berichte und Prognosen des Meteorologen Liebling erschienen, versteht sich, nach wie vor, und je weniger Bestätigung sie in der Wirklichkeit fanden, um so optimistischer wurden sie, und grad in diesen Tagen eroberten sie sich in der Presse die erste Seite, die Leitartikel-Spalte, und verdrängten von dieser Stelle die Außenpolitik vollständig, so daß in einem Leitartikel zu Recht bemerkt wurde, die Meteorologie habe die Außenpolitik ersetzt und sei statt dieser zu unserem Schicksal geworden.
Auf den zweiten Platz stieß die Wirtschaftsrubrik vor. Auch diejenigen, die
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