Eis
eben erst entladenen Schlitten. „Es war schön, wenn ich damit fahren könnte“, dachte er. Aber er getraute sich nicht, darum zu bitten. Er hatte Angst, man könnte ihn abweisen. Er war nicht mehr Generaldirektor.
Er schob sich die Bücher in die Achselhöhle und machte sich langsam durch den Schnee auf den Weg. Durch die Straße glitten einige kleine Pferdeschlitten; sie stellten jetzt das einzige Verkehrsmittel in der Stadt dar, aber da sie knapp waren, dienten sie in der Hauptsache nur den Direktoren jener Behörden, die mehr Glück gehabt hatten. Für gewöhnliche Reisende gab es den Gehsteig mit festgetretenem Schnee.
Er zog den letzten Brief seiner Frau aus der Tasche, der mit dem letzten Postkurier angekommen war und den er schon auswendig kannte, und während er bergan zu steigen begann, las er den Schluß noch einmal. „Also“, schrieb die Frau, „ich bleibe hier, bei den Meinen, wo es angenehmer und menschlich wärmer ist. Ich spürte aus Deinen Briefen, die immer seltener, kürzer und kühler geworden waren, daß etwas los war, und Dein ständiger Rat, ich soll mit der Übersiedlung nach Belgrad noch warten, angeblich weil das Haus und die Wohnung noch nicht hergerichtet sind (als wenn wir zwei einst nicht in einem einzigen, engen Zimmer glücklich gewesen wären), sagten mir, Du wünscht vielleicht gar nicht mehr, daß ich komme. Nun, nachdem mir gemeldet worden ist, daß man Dich dauernd mit irgendeiner Dara sieht (einer Geschiedenen vielleicht), ist mir endlich alles klargeworden. Das heißt also, wir trennen uns, für immer und ewig. Möglicherweise müßte ich Dich wegen alldem kalt verachten und Dich schweigend verlassen, ohne auch nur ein einziges warmes Wort. Ich müßte, sage ich. Dennoch, ich kann nicht anders, als Dir zum Schluß zu wünschen, Du möchtest anderswo jene Liebe und innige, freundschaftliche Wärme finden, die ich Dir geboten habe, ohne mich je zu schonen, und die heute so selten und so notwendig sind in dieser rohen und eisigen Zeit.“
‚Also’, dachte er mit einem Seufzer und nicht ohne Bedauern, ,auch damit gilt es sich abzufinden. Auch damit ist es also aus. Jetzt kann ich ihr nicht einmal mehr antworten.’ In Gedanken und Erinnerungen verloren, wollte er den Brief in die Tasche zurückschieben und die Straße überqueren, da sauste ein Gespann an ihm vorbei und hätte ihn um ein Haar überfahren. Er konnte nicht genau erkennen, wer auf dem Schlitten saß, so sehr blendete ihn der aufstäubende Schnee. Dennoch war ihm, als wär’s Frau Krekić gewesen – obwohl diese den Kopf abwandte, um ihn nicht sehen zu müssen und um nicht in die Versuchung zu kommen, ihn mitzunehmen. Elektrischen Strom gab’s noch; er lief über unterirdische Kabel. Aber die Straßenbeleuchtung war längst verloschen, und das nicht nur aus Gründen der Sparsamkeit. Einer nach dem anderen rissen die Drähte der oberirdischen Leitungen, und im Zusammenhang damit hörten auch alle Telefongespräche in der Stadt auf. Amtliche Bekanntmachungen wurden nur noch übers Radio verbreitet – wobei klar war, daß auch das nicht mehr lange dauern würde: die Sendemasten und -antennen hielten dem Druck von Reif und Schnee kaum noch stand –, private Nachrichten aber nur noch von Mund zu Mund (im übrigen, wie auch früher schon, sehr schnell und wirkungsvoll), und ein findiger Mann kam auf die Idee, auf dieser Basis eine Art privates Fernsprechunternehmen zu organisieren. Die Stadt war still geworden – ohne Autogehupe, ohne das Klappern und Rauschen der Trolleybusse, ohne Motorengedröhn, ja auch ohne das Geschrei der Zeitungsverkäufer. In der dichten, schweren kalten Luft pflanzten Geräusche sich besser fort, und der findige Privatunternehmer engagierte einen Trupp stimmgewaltiger und großohriger junger Männer, die von den höchsten Dächern durch große Trichter Nachrichten und Botschaften ausschrien und so die entferntesten Teile der Stadt miteinander verbanden. Solcher Leitungen gab es nur wenige, und der Tarif war hoch. Der größte Mangel war indessen, daß alles öffentlich und laut ausgerufen wurde, so daß alle es hören konnten und nicht nur diejenigen, für die es bestimmt war. So kam es vor, daß zu einem vereinbarten Rendezvous irgendeiner schönen Frau mehrere ihrer Verehrer zu gleicher Zeit erschienen – oder, was noch schlimmer war, auch ihr eigener Mann. Darum wurden, gegen einen Aufpreis, auch chiffrierte Nachrichten übertragen, und später wurden auch andere
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