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Eis

Eis

Titel: Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kosch
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mehr, aber das tröstete niemanden mehr. Ohnehin lag der Schnee hoch genug, und hier in unserem Land erstreckte er sich fast bis ans Meer. Für Herbst und Winter konnte neuer erwartet werden, aber der alte wuchs auch ohne alles das ständig weiter. Als verwandle die Erde unter ihm sich in – Schnee. Die Feuchtigkeit, die Menschen und Pflanzen tagsüber ausschieden, setzte sich nachts in Form von Reif auf dem Schnee ab. Wie Sand inmitten der Wüste, so drangen Reif und Schnee in alle Poren, sogar in hermetisch abgeschlossene Räume, und schienen auch dicke Betonwände, die der radioaktiven Strahlung getrotzt hatten, zu durchdringen. An solchen Stellen tauchte zuerst ein dünnes, spinnwebartiges Schimmelgebilde auf, das beim Auflegen der Finger schmolz; doch rieb man es vergebens weg – was immer man auch tat, es trat über Nacht erneut auf, noch ausgeprägter, und wenn man es beseitigen wollte, verwandelte es sich in Eis. Danach begann dieses erste Fleckchen sich auszudehnen, sich mit anderen zu verbinden und mit feinen Eisnadeln und Kristallen zuerst eine, dann alle übrigen Wände des Raumes zu bedecken. Das Zimmer wurde bald zu einer mit Eis ausgelegten Kühlkammer, und die Menschen waren genötigt, es zu verlassen.
    Die Züge lagen schon längst vereist in den Bahnhöfen oder, vom Schnee verweht, auf offener Strecke herum. Seit kurzem war auch der Flugverkehr eingestellt. Die Schiffe saßen in ihren Winterhäfen fest, eingeklemmt von einer Eisdecke, die besser trug als jede Flußbrücke. Ein paar reparierte Panzer und Raupenschlepper waren jetzt die einzigen Kraftfahrzeuge.
    „Da haben wir’s!“ seufzte der frühere Generaldirektor beim Verlassen seines früheren Büros und schleppte unter den Arm geklemmt die letzten Sachen nach Haus, die ihm noch geblieben waren: das frühere Kursbuch, das frühere Telefonbuch, ein paar vergrößerte Fotografien, seine persönliche Handakte, einen Brieföffner, ein paar Kalender und Mappen – alles Geschenke, die er einmal von seinen Beamten zum Geburtstag und ähnlichen Anlässen bekommen hatte. „Da haben wir’s!“ wiederholte er, während er, vom Hausverwalter begleitet, die vereiste Freitreppe hinabrutschte. „Von aller Motorisierung sind uns nur unsere Beine geblieben. Bis Schabatz oder bis Novi Sad sind es wieder gut drei Tage zu Fuß. Wie in der alten, wirklichen Eiszeit. Und wie lang ist es her, daß der letzte Zug über diese Strecken gerast ist? Im ganzen drei oder vier Monate. Da sieht man, was aus unserer Zivilisation und Kultur in so kurzer Zeit gemacht worden ist. In drei Monaten sind wir um mehr als zwanzigtausend Jahre zurückgefallen.“
    Er blieb stehn und sah sich um. Das große Gebäude wirkte traurig. Nichts Besonderes war ihm widerfahren, es war nicht von Fliegerbomben getroffen noch von Erdbeben oder Feuer zerstört worden. Die Mehrzahl der Fensterscheiben war noch ganz. Und dennoch schien das Haus plötzlich um einige zehn Jahre gealtert. Verrußt, versengt, faltig geworden. Man spürte, daß es leer und verlassen dastand. Daß hinter den Fenstern kein Leben war – wie hinter der glasigen Pupille eines Toten. Nur aus zwei Fenstern im ersten Stock, durch Ofenrohre, die da hilflos herausragten wie die Arme eines Ertrinkenden, kam braungelber Rauch. Er wußte: In diesen Zimmern wickelten die letzten Beamten der Direktion die Liquidation ab und verheizten dazu in eisernen Öfen die Reste der Schreib- und Konferenztische, der Schränke und Regale, Akten, Karteikarten, grafische Darstellungen von den Wänden, Register, Gesetzeskommentare, gesammelte Verordnungen, gesammelte Amtsblätter, Sessel, Garderobenständer, die gepolsterten Doppeltüren, herausgerissene Parkettplatten und auch die kostbare hölzerne Wandtäfelung aus dem Festsaal. „Da hat man’s!“ dachte er voll Kummer. „Da sieht man, wie weit es kommt, wenn der Mensch ehrlich geboren ist! Besonders leid tat es ihm um den langen, schweren Konferenztisch. Er hätte diesen beizeiten zu sich nach Haus schaffen können, angeblich, um daran zu arbeiten, und könnte damit nun einen ganzen Monat heizen.“
    Noch einmal seufzte er auf. Die feierlichen Firmenaufschriften der Generaldirektion neben dem Eingang waren überstrichen, in ungelenker Kinderschrift, wie von einem Menschen aus der Vorzeit, war mit einem Stück Kohle drübergeschrieben: „Hundetrans – Direktion für Transport und Verkehr mit Hundefuhrwerken.“ Tatsächlich standen vor dem Eingang zwei, drei Gespanne mit niedrigen,

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