Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition)
Titel:
Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Mike Krzywik-Groß
,
Torsten Exter
,
Stefan Holzhauer
,
Henning Mützlitz
,
Christian Lange
,
Stefan Schweikert
,
Judith C. Vogt
,
André Wiesler
,
Ann-Kathrin Karschnick
,
Eevie Demirtel
,
Marcus Rauchfuß
,
Christian Vogt
verdienen?
Das Schneetreiben hatte sich zu einem ausgewachsenen Sturm gesteigert. Dicke Flocken flogen mir ins Gesicht, so dass ich selbst die Pistole in meiner Hand nicht mehr sehen konnte. Doch ich wäre kein Finder geworden, wenn ich so schnell klein beigegeben hätte.
Damals kannte ich ihren Namen noch nicht, wusste nicht viel mehr, als dass sie eine Diebin war. Eine niedere Verbrecherin, die sich am Wohlstand der Hansestadt bedient hatte – und ich war ihr auf der Spur.
Sie sollte für den Meistbietenden arbeiten, wurde mir gesagt, was nicht ungewöhnlich für das Veneta dieser Tage war. Jeder in der Stadt arbeitete für den Meistbietenden, egal ob er mit Vitium-Öl, fortschrittlichen Schusswaffen, Drogen oder Menschen handelte. Die Stadt auf der Halbinsel Wolin war der Inbegriff des zügellosen Kapitalismus. Ein Moloch aus Gier und schnellen Geschäften. Niemand scherte sich um das Gemeinwohl, wenn das schnelle Geld lockte. Das Venedig des Nordens, wie manche Veneta nannten, zwischen dem behüteten Pommern und dem freien Polen. Meine Heimat.
Für den Fall, dass das Gleichgewicht der Kräfte einmal ins Wanken geriet, hatten die Reichen und Mächtigen Venetas Leute wie mich. Ich arbeitete damals schon viele Jahre bei der Hanse-Sicherheit und galt als alter Hase unter den Findern – so nannten sie ihre Spürhunde. Unsere einzige Aufgabe bestand im Aufspüren Flüchtiger. Dafür gab man uns die neuesten Spielzeuge und modernsten Schusswaffen. Ich hatte das Recht, innerhalb der gesamten Hanse zu operieren, auch die Anwendung von Gewalt war mein täglich’ Brot. Somit war der Auftrag, die Diebin, die einen unbekannten Prototyp aus den Werkstätten der Ængländer gestohlen hatte, dingfest zu machen, nichts Besonderes. Reine Routine.
Sie rannte zum gefrorenen Pier im östlichen Haff. Eine meiner Kugeln steckte in ihrer linken Schulter, doch das machte sie nicht langsamer. Ich folgte ihren weit auseinanderliegenden Fußspuren im Schnee, die von vereinzelten tiefroten Blutstropfen verbunden schienen. Doch ihr Ziel war weder der vereiste Hafen noch das unübersichtliche Stahlwerk, dessen Hitze selbst in dieser entlegenen Gasse zu spüren war und den Schnee schmolz. Nein, ihre Spur bog nach Süden ab, und erst als ich ihr nachlief erriet ich, wohin die Reise gehen sollte. Die Diebin steuerte den Bahnhof an.
Mit flinken Fingern kramte ich meine Taschenuhr hervor. Ich öffnete den vergoldeten Deckel, ohne langsamer zu werden und betrachtete das künstlerisch gestaltete Zifferblatt: kurz vor Mitternacht. Kurz, bevor der letzte Zug die Stadt verließ!
Ich beschleunigte meine Schritte, auch auf die Gefahr hin zu stürzen. Ich musste die Verbrecherin erreichen, ehe sie am Bahnhof eintraf.
Schon sah ich das prächtige Gebäude mit der riesigen, freitragenden Kuppel. Trotz der späten Stunde drängte sich eine beachtliche Anzahl Reisender durch das schmale Tor. Ich stieß einige zur Seite. Anfangs h örte ich, wie sie mir Verwünschungen nachriefen. Doch als ich ihnen mit meiner nagelneuen Repetierpistole winkte, verstummte schnell jeder Protest. Zur Sicherheit hatte ich meine Hanse-Marke offensichtlich an den Gehrock geheftet. Ich durchquerte die Halle des Kopfbahnhofs und suchte die Bahnsteige ab. Nur noch eine große Lokomotive stand mit einem riesigen Anhang von Waggons abfahrbereit.
Kurz darauf musste ich mir eingestehen, versagt zu haben. Unter gewaltigen Qualmwolken schob sich die tonnenschwere Dampflok aus dem Kopfbahnhof Venetas. Aus der Ferne konnte ich die junge Frau im veilchenblauen Kleid erkennen, die sich aus dem Fenster eines Waggons lehnte und mir zuwinkte, ehe sie ihr Gesicht unter Schmerzen verzog. Zumindest hatte sie ein Andenken von mir, dachte ich in Hinblick auf die Kugel in ihrer Schulter.
Meine Vorgesetzten würden nicht begeistert sein.
Als ich am nächsten Morgen das Luftschiff bestieg, war ich von einer Entschlossenheit erfasst, die ich in den letzten Jahren nur selten verspürt hatte. Ich hielt kurz auf dem Landungssteg inne und schaute über Veneta. Es war der amoralischste Ort, den ich kannte, und es war mein Zuhause. Ich würde diesen Moloch vermissen.
Schnell stieg ich in den Linienflug, suchte mir ein Platz weit weg von den Fenstern – ich hasse Höhen – und öffnete meine Tasche. Ich zog die Akte hervor, die mir auf wenigen beschriebenen Blättern den aktuellen Vorgang näherbringen sollte. Ich schaltete die kleine Karbidlampe auf dem runden Bistrotisch ein und bestellte einen
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