Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
1.
Elbstrand, Hamburg-Blankenese, Mittwoch, den 17. März, 9.30 Uhr
Fabel fuhr mit seinem Handschuh sanft über ihre Wange. Eine dumme Geste, wahrscheinlich eine unangemessene Geste, doch er hielt sie irgendwie für notwendig. Er merkte, wie seine Finger bebten, während sie über die Biegung ihrer Wange glitten. Panikartig schnürte sich seine Brust zusammen, als ihm bewusst wurde, wie sehr sie ihn an seine Tochter Gabi erinnerte. Er lächelte mühsam, und seine Lippen zitterten, als hätten sich seine Gesichtsmuskeln angestrengt gespannt. Sie blickte mit ihren großen Augen zu ihm auf. Mit starren, himmelblauen Augen.
Seine Panik wuchs. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen und ihr versichert, dass alles gut werden würde. Aber das konnte er nicht; nichts würde gut werden. Immer noch richtete sie ihre himmelblauen Augen unverwandt auf ihn.
Fabel spürte Maria Klee neben sich. Er zog die Hand zurück und erhob sich aus der Hocke.
»Wie alt?«, fragte er, ohne seine Augen von denen des Mädchens abzuwenden.
»Schwer zu sagen. Vielleicht fünfzehn oder sechzehn. Wir haben noch keinen Namen.«
Eine Morgenbrise wirbelte Teile des feinen Sandes auf und rührte ihn um wie eine dicke Flüssigkeit in einem Glas. Einige Körner bliesen dem Mädchen in die Augen und ließen sich auf dem Weiß nieder, aber sie blinzelte trotzdem nicht. Fabel konnte sie nicht mehr ansehen und riss den Blick von ihr los. Er schob die Hände tief in die Manteltaschen und wandte, um etwas anderes vor sich zu haben als das Bild eines ermordeten Mädchens, den Kopf in Richtung der rotweiß gestreiften Spindel des Blankeneser Leuchtturms. Dann drehte er sich zuMaria hin. Er schaute in ihre blaugrauen, aufrichtigen Augen, die nie sehr viel über ihre Persönlichkeit zu verraten schienen. Das ließ auf eine gewisse Kälte, einen Mangel an Emotionen schließen, wenn man sie nicht gut kannte. Fabel seufzte, als hätte ihm ein mächtiger Schmerz oder eine tiefe Trauer den Atem aus dem Leib gepresst.
»Manchmal glaube ich, dass ich nicht mehr weitermachen kann, Maria.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte sie mit einem Blick auf das Mädchen.
»Nein…, wirklich, Maria. Ich mache diese Arbeit fast die Hälfte meines Lebens, und manchmal habe ich einfach genug davon. Herrje, Maria, sie hat so viel Ähnlichkeit mit Gabi.«
»Warum überlässt du die Sache nicht mir?«, schlug Maria vor. »Jedenfalls vorläufig. Ich rede mit den Spurensicherern.«
Fabel schüttelte den Kopf. Er fühlte sich zu dem Mädchen hingezogen. Er musste bleiben, musste sich die Szene ansehen, musste Schmerz empfinden. Ihre Augen, ihr Haar, ihr Gesicht – er würde sich an jede Einzelheit erinnern. Dieses Gesicht, das zu jung für die Spuren des Todes war, würde von seinem Gedächtnis gespeichert werden, genau wie all die anderen Gesichter aus den Jahren der Mordermittlung – manche jung, manche alt, alle tot.
Nicht zum ersten Mal war Fabel verbittert über die einseitige Beziehung, die er zu diesen Menschen knüpfen musste. In den kommenden Wochen und Monaten würde er das Mädchen kennen lernen. Er würde mit ihren Eltern, ihren Geschwistern, ihren Freunden und Freundinnen reden, sich über ihren Tagesablauf, ihre Lieblingsmusik und ihre Hobbys kundig machen. Dann würde er seine Nachforschungen vertiefen: Er würde ihren engsten Freundinnen wichtige Geheimnisse abringen; er würde das Tagebuch lesen, das sie vor der Welt verborgen gehalten hatte, und Gedanken mit ihr teilen, die sie mit niemandem hatte teilen wollen; er würde die Namen derJungen lesen, die sie in aller Stille auf ein Blatt gekritzelt hatte. Er würde ein vollständiges Bild der Hoffnungen und Träume, des Geistes und der Persönlichkeit aufbauen, die einst hinter jenen himmelblauen Augen gelebt hatten.
Schließlich würde Fabel das Mädchen durch und durch kennen, doch sie würde nie etwas über ihn erfahren. Seine Wahrnehmung ihrer Person begann damit, dass ihre Wahrnehmung ausgelöscht worden war. Durch ihren Tod. Es war Fabels Beruf, die Toten kennen zu lernen.
Sie starrte ihn immer noch vom Sand her an. Ihre Kleidung war alt – keine Lumpen, doch schäbig und abgetragen. Ein sackförmiges Sweatshirt mit einem verblassten Aufdruck und verwaschene Jeans. Selbst als die Kleidungsstücke noch neu waren, mussten sie billig gewesen sein.
Sie lag mit halb untergeschlagenen Beinen auf dem Sand. Ihre Hände waren gefaltet und ruhten auf ihrem Schoß. Es war, als hätte sie auf dem Sand
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