Eis und Wasser, Wasser und Eis
kleine Bewegung, die aufzuhören scheint, bevor sie vollständig ausgeführt wurde. Leif Eriksson nimmt einen Schluck Kaffee und folgt ihnen mit dem Blick. Eine Eishaut? Jetzt schon? Er dreht sich um und späht in Fahrtrichtung. Ja. Hier ist es ebenso. Die Wasseroberfläche glänzt wie Wasser, bewegt sich aber so gut wie gar nicht, sie befindet sich in dieser sonderbaren Zwischenphase, in der sie weder Eis noch Wasser ist.
Aha. Sieh einer an. Dann wird es bald richtiges Eis zu brechen geben. Er nickt vor sich hin und lässt sich wieder auf seinen Stuhl sinken, lehnt den Kopf gegen die Nackenstütze und richtet den Blick auf den Horizont. So bleibt er eine ganze Weile sitzen, reglos bis auf das langsame Heben und Senken der Augenlider, und endlich verstummen auch seine Gedanken.
Eine Bewegung am Rande seines Gesichtsfelds versetzt auch ihn wieder in Bewegung, er richtet sich so hastig auf, dass der kalte Kaffee fast über den Becherrand schwappt, und blinzelt aufs Deck hinunter, um besser sehen zu können. Wer ist das? Und was macht diese Frau da unten auf Deck um halb zwei Uhr nachts? Er stellt seinen Becher ab und beugt sich vor, bis er fast ans Fensterglas stößt, reibt sich mit Daumen und Zeigefinger die Augenwinkel, um besser sehen zu können. Ist das eine der Forscherinnen? Nein. Die ersten Proben werden doch nicht vor vier Uhr morgens entnommen, bis dahin schlafen sie, so tief sie nur können. Und außerdem würde keiner all dieser Chemiker oder Ozeanografen, oder wie sie sich nun alle nennen mögen, im bloßen Nachthemd an Deck herumlaufen … Denn dass dem so ist, kann er deutlich sehen. Die Frau, die über die vorderen Decks läuft, trägt zwar die blaue Windjacke des Polarforschungssekretariats, aber es besteht kein Zweifel, dass sie die nur über ein weißes Nachthemd gezogen und dann ihre nackten Füße in ein paar braune Stiefel gesteckt hat. Sie sieht aus wie eine verirrte Lucia, mit ausgestrecktem rechten Arm und etwas Weißem, nein, etwas Schwarzem, nein, es ist sowohl weiß als auch schwarz, was da von ihrer Hand baumelt. Sie geht ganz bis zum Vorderdeck und klettert die kleine Treppe an der Reling hoch, beugt sich über den Rand und wirft ohne das geringste Zögern das Schwarzweiße ins Meer. Dann dreht sie sich um und hüpft mit einem kindlichen Schlusssprung wieder aufs Deck, steckt ihre Hände in die Taschen und macht sich auf den Rückweg. Erst als der Wind ihr gewelltes Haar zu packen bekommt, kann Leif Eriksson sie erkennen. Das ist ja dieses blasse Wesen, diese Frau, die so durchsichtig ist wie eine rohe Krabbe und ebenso farblos. Zurückhaltend. Definitiv keine von denen, um die sich die männliche Besatzung prügelt. Es sieht aus, als spürte sie, dass sie beobachtet wird, denn plötzlich bleibt sie stehen und schaut zur Brücke hoch, hebt dann zögerlich die Hand zum Gruß. Sie kann ihn nicht sehen, das weiß er, niemand, der auf den vorderen Decks steht, kann in die Brücke hineinsehen, nicht einmal bei vollem Tageslicht, dennoch fühlt er sich veranlasst, ebenso zögerlich die Hand zur Antwort zu heben. Sekunden später ist sie verschwunden.
Leif Eriksson lässt sich wieder auf seinen Stuhl fallen und verzieht das Gesicht. Was um Himmels willen ist da eben passiert? Er wirft einen Blick auf die Uhr. 01.34 Uhr. Er müsste eine Notiz im Logbuch machen, und dafür ist der Zeitpunkt wichtig. Dann wird der Kapitän morgen die Sache übernehmen und ihr eine Lektion erteilen. Nichts darf hier ins Meer geworfen werden, das wissen doch alle. Der gesamte Eisbrecher ist ein geschlossenes System, ein System, das zwar Meerwasser fürs Labor aufsaugt, aber keinerlei menschlichen Abfall von sich gibt. Das fehlte noch. Was hätte denn ein Forschungsschiff für einen Sinn, wenn es selbst das Wasser verschmutzt, das es untersuchen will?
»Die hat sie ja wohl nicht mehr alle!«
Seine eigene Stimme überrascht ihn. Sie zittert etwas, was ihm peinlich ist, und dass ihm das peinlich ist, macht ihn noch wütender.
»Scheiße, die hat sie doch echt nicht mehr alle!«
Er nimmt seinen Becher und bringt ihn in die Pantry, kippt den kalten Kaffee aus und schenkt sich neuen nach, bevor er zurück zum Steuerknüppel geht, sich hinsetzt und zu entspannen versucht. Was ihm nicht gelingt. Plötzlich ist das Wasser draußen nur Wasser, die Küste nur eine Küste und der Himmel nur ein Himmel.
Leif Eriksson nimmt einen Schluck Kaffee. Tja. So viel zum Thema ungestörte Nachtwache. Vielen Dank auch. Vielen, vielen
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