Eis
Nöte zu überbrücken und auch die Kälte leichter zu ertragen, und jeder Panik und unnützer Erregung aus dem Wege zu gehen, da dies nur den Kalorienspiegel des Organismus herabdrückt. Die zuständigen Behörden befinden sich in ständigem und engem Kontakt zu den Gelehrten, die die Ursachen und möglichen Folgen des eingetretenen Zustandes untersuchen, und von ihren Befunden und Empfehlungen wird die Bevölkerung rechtzeitig unterrichtet werden. Desgleichen wird alles Mögliche getan werden, damit die Folgen des eingetretenen Zustandes gemildert und die Gesellschaft als Ganzes in den Stand versetzt werde, sich diesen Folgen möglichst erfolgreich entgegenzustellen, und je nach Bedarf werden auch entsprechende Maßnahmen getroffen werden.
Nach allem zu schließen, stehen wir auf der Schwelle zu einer neuen Eiszeit.“
Diese verhältnismäßig kurze Verlautbarung des Professors Liebling vom Hauptwetteramt wurde im Laufe des Vormittags im Rundfunk mehrmals wiederholt, über die gleiche Welle, mit der gleichen Stimme, und danach erschien sie auch in der Presse.
Die Menschen lasen oder hörten sie ohne sonderliche Erregung (wie man das im übrigen von ihnen auch erwartete), nur mit einem kleinen Stich Gewißheit in der Brust – wie wenn man mit einem Injektionsstich ins Herz eines unheilbar Kranken dessen Qualen verkürzt. Sie schauten zum Fenster hinaus, in die weiße Schneelandschaft, die durch die zugefrorenen, mit Eisblumen bedeckten Scheiben kaum zu erkennen war. Sie schauten sich die kalte Wüstenei und die bleichen Gesichter der Häuser an, wandten sich der eigenen Wohnung und den Gesichtern ihrer Lieben zu und ließen sich auf dem erstbesten Stuhl nieder.
„So“, sagte die Frau und hantierte mit irgend etwas um sich her, „jetzt weiß ich genau, woran wir sind.“
„Ach was“, antwortete der Mann, „wir werden auch das durchstehn. Wir werden auch damit fertig werden. Es wird uns ergehn wie den anderen auch. Es wird schon auch für uns nicht am schlimmsten ausfallen. Kommt!“ rief er seinen zwei Söhnen zu und ging mit ihnen vor das Haus in den Schnee. Hier legten alle drei Mäntel und Hemden ab, spreizten die Beine, schwangen die Arme, bückten sich und begannen sich gegenseitig mit Schnee abzureiben. Der Vater rieb sich seine mächtige Brust selbst ein – sie war derart mit Haaren bewachsen, daß der Schnee kaum bis zur Haut durchdrang. Die drei machten Schneeballschlacht, rannten im Schnee hin und her, dann zogen sie sich wieder an und kehrten ins Haus zurück. Langsam, mit ruhigem, sicherem Schritt.
„Die haben’s gut“, sagte die Nachbarin, die im Haus schräg gegenüber am Fenster stand und die Nase an die Scheibe drückte, um besser sehen zu können, was draußen vorging. „Wer?“ fragte ihr Mann, während er sich die Schuhe band. „Von wem sprichst du?“
„Von den Mazuras. Sie sind auf den Hof gegangen, machen Schneeballschlacht und reiben sich mit Schnee ab.“
„Na und? Sie trainieren. Sie passen sich an. Vielleicht wär’s besser, wenn auch wir so was Ähnliches täten, statt in einem fort zu jammern und zu verzweifeln.“
„Ach, die haben’s gut!“ wiederholte die Frau. „Sie wissen und begreifen noch nicht, worum es sich handelt.“
„Wieso denn nicht? Meinst du, die haben kein Radio im Haus oder haben die Zeitung noch nicht aufgeschlagen? Man hat das alles doch schon längst gewußt, auch ohne Verlautbarung. Koljitzki hat das im Wirtshaus ,Zu den drei grünen Blättern’ auch gesagt.“
„Egal. Dennoch wissen sie nicht und verstehen nicht. Sie begreifen nicht, was das heißt. Einfachere Menschen haben es immer leichter. Sie gehen morgens hinaus in den Schnee und reiben sich die Brust ab …“
Sie trat vom Fenster zurück, breitete mitten im Zimmer, wie ans Kreuz geschlagen, die Arme aus und sagte, eine gealterte, müde Frau mit verweinten Augen, zu ihrem Mann: „Als wenn man da irgendwas tun könnte. Als wenn es einen Sinn hätte, mit dem Eis zu kämpfen. Als wenn wir das Eis mit unseren Brüsten aufhalten könnten. Ach!“ seufzte sie und ließ sich, wie sie war, auf das Bett fallen, und ihr erschlaffter, lose über die Decke hingebreiteter Leib schien stumm zu wiederholen: Es hat keinen Sinn, ach, es hat keinen Sinn.
Der Genosse Tomić hörte morgens Radio, machte sich fürs Büro fertig, zog sich an, band die Schuhe, während seine Frau dauernd auf ihm ‘rumhackte. „Schon wieder!“ setzte er sich zur Wehr. „Schon wieder fängst du davon an. Mußt
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