Eis
gewesen … Kaum hatten wir angefangen, etwas besser zu leben, setzten wir uns derart aufs hohe Roß und wurden derart dreist, daß uns irgendwas passieren mußte … Kaum war der eine Krieg zu Ende, bekamen wir schon Gelegenheit, überall in den Zeitungen von der ‚Abkühlung der früher herzlichen und warmen Atmosphäre unter den Verbündeten’ zu lesen, von ‚kühler Aufnahme’, auf welche die Vorschläge zur friedlichen Lösung strittiger Fragen gestoßen sind, und von der Ausbreitung des ‚kalten Krieges, der die ganze Welt zu ergreifen droht’ … Es verging fast kein Tag, daß wir nicht im Radio was gehört hätten von der ‚eisigen Atmosphäre’, die auf einer Konferenz herrschte, von eisernen und ‚eisigen’ Vorhängen, von den ‚Eisbarrieren’ des kalten Krieges und vom großen, überraschenden Interesse der Großmächte am Eis des Nord- und Südpols … Haben wir uns nicht selbst schon so viele Male beklagt, daß ein Vorgesetzter uns ,sehr kühl’ empfangen hat; daß ein Bekannter, an den wir uns um Hilfe wandten, uns ,kalt’ gegenübertrat; daß ein Freund, auf den wir am meisten gebaut hatten, uns ,eisig’ abwies … ? Wir sind untereinander ‚abgekühlt’, der Freund tritt dem Freund, der Bruder dem Bruder nicht mehr ,warm’ entgegen. Wir hüten uns vor inniger Freundschaft, kameradschaftlichem Vertrauen und aufrichtigem Gespräch. Wir haben uns gegeneinander durch unsere Ämter und Stellungen abgegrenzt, wir verhalten uns gegenseitig ‚kalt dienstlich’, und wir bestrafen jede Vertraulichkeit und Familiarität in den dienstlichen Beziehungen. Die eigenen Seelen haben wir in finsteren, eisigen Kellern versenkt, und überall um uns her, in den Büros, Kinos, Werkstätten und Wohnungen, haben wir Kühlschränke, Ventilatoren und andere Kühlgeräte ^aufgestellt. In großen Kühlhäusern wird die Nahrung tiefgekühlt, die wir vom Eis essen, und auch die Mediziner heilen seit einiger Zeit mit Hilfe künstlicher Vereisung. Ist’s da ein Wunder, daß sich von soviel Eis die Erde abzukühlen begonnen hat und nun diese Eiszeit da angebrochen ist? …“
Man saß in den „Drei grünen Blättern“ zusammen und setzte sich über all das auseinander. Hinter den dicken Scheiben, beim Ofen, war es verhältnismäßig warm. Man spürte den säuerlichen Geruch von allerlei Getränken und Tabakrauch, ungewöhnlich und geheimnisvoll, wie in einem Krämerladen, der reizte die Nasen und stachelte die angestammte Gewohnheit auf, die Dinge durch Beschnüffeln zu unterscheiden.
„Ich wußte, daß etwas passieren würde. Daß irgendein neues Unglück kommen würde“, sagte die Frau des Buchhalters. „Wir haben unser Haus geordnet und die Tochter verheiratet. Wir müßten jetzt in Pension gehn und. in Ruhe leben, zwischen unseren vier Wänden.“
„Da seht ihr’s ja! Das alles ist doch daher gekommen, daß sich ein jeder in sich selbst und in seinen vier Wänden verschloß. Er kümmerte sich um sich selbst und um seine Angelegenheiten. Und man weiß doch: dem einsamen Menschen ist es auch im Bett, unter der Bettdecke kalt. Irgendein anderer ist es, ein Mitmensch, der ihn am besten erwärmt.“
„Genau! Ganz genau! Ich frage mich: Wann sind wir früher so zusammengekommen? Und man sagt doch, wir wären die nächsten Nachbarn und Freunde. Daraus sollten wir etwas lernen. Wir könnten öfters hier einkehren und uns gemeinsam wärmen.“
Sie willigten ein. Sie beschlossen, daß ein jeder sein Teil Heizung mitbringt und daß sie sich auf diese Weise wenigstens zweimal die Woche nachmittags und Sonntag vormittags hier einfinden. Fürs erste: bis man sieht, wie es mit dieser Eiszeit weitergeht. Der Tischler, der es von seinem Beruf her an sich hatte zu predigen, meinte, alles das werde trotzdem nicht lang dauern. Es handelt sich nur um eine Art Versuchung, um Strafe und Verweis für unsere Sünden. Und von Sanftmut und Güte voll, überzeugte er die versammelte Gesellschaft, daß es nicht schneie, damit die Welt zugrunde gehe, sondern daß jede Bestie ihre Fährte zeige. Jetzt wird sich zeigen, wer was für ein Mensch, wer wessen Freund und wieviel wert einer ist. Darin liegt ja auch der ganze Sinn dieser Eiszeit. Der dicke Drechsler meinte indessen, es war nun des Wartens und Faulenzens genug gewesen. Es taugt nichts, mit verschränkten Armen auf Gnade vom Himmel oder von den Meteorologen zu warten. Man muß etwas unternehmen und kämpfen. So gut wie morgen schon wird er dicke wollene Bauernstrümpfe
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