Eis
Tagen und im ersten Rausch alle potentiellen Selbstmordkandidaten ausgelebt und ausgetobt hatten. „Wenn man nach Freiwilligen ruft, muß man ein Beispiel geben“, sagte die einfache, vom Gesetz nicht geschützte Welt – anspielend damit auf die Vertreter der geschützten Kategorien. Und hielt sich dabei an die bei uns geheiligte Regel: ,Wenn sie bei uns geben, nimm sofort, als einer der ersten; wenn sie verlangen, sieh auf jeden Fall zu, daß du dich als einer der letzten meldest. Beim einen wie beim andern ermüden sie schnell und ziehn die Hand von allem zurück.’ Die Leute zögerten, sich auf den Todesplätzen einzufinden; derweil türmte der Eistod auf den inoffiziellen Friedhöfen immer neue und immer ausgewähltere Leichen auf.
Und grad in diesen Tagen gelangte ein Teil dieses besten und gefährdetsten Teils der Menschheit – indem er unter Selbstaufopferung seine langjährigen Forschungen fortsetzte – zu neuen und massiven wissenschaftlichen Ergebnissen, die der Menschheit helfen konnten, die überraschend eingetretene Witterungskatastrophe zu überleben. Nachdem sie die Menschen jahrhundertelang ausdauernd und aufopferungsvoll mit Wärmflaschen, heißen Tees, Glühwein, Aspirin und anderen schweißtreibenden Mitteln, Dampfbädern, warmen wollenen Unterhemden und heißen Sandpackungen sommers am Strand kuriert hatten – uns vor jedem Luftzug und jeder Erkältung bewahrend („Trink kein kaltes Wasser, wenn du verschwitzt bist!“) und die Wärme für die Quelle allen Lebens haltend –, gelangten die Ärzte, mit Weitblick die Entwicklung der Dinge voraussehend, gerade am Vorabend der Eiszeit zu der genialen Entdeckung: daß in Wirklichkeit die Kälte der beste Freund der Gesundheit sei. „Verkühle dich täglich!“ sprachen sie und spornten die Menschen an, im Winter in kaltem Wasser zu baden, in ungeheizten Räumen zu schlafen, sich leicht zu kleiden, ohne Angst vor Durchzug die Zimmer zu lüften und sich möglichst viel an kalter und frischer Luft zu bewegen. Alles das war unter den gegenwärtigen Bedingungen – da die Menschen sich auch ohne ärztlichen Rat täglich erkälteten und nicht einen Tag lang dazukamen, sich aufzuwärmen und warm genug anzuziehn – von großem psychotherapeutischen Wert, wie die Ärzte das fachmännisch nannten. Wie auch der große Newton das Gravitationsgesetz erst entdeckt, nachdem ihm ein Apfel oder eine Birne auf den Kopf gefallen war, so war auch ein Arzt erst zu seiner neuen Entdeckung gekommen, nachdem er aus Versehen seinen Hauskater im Kühlschrank eingeschlossen hatte (was nur beweist, daß die unmittelbare Erfahrung das höchste Gesetz unserer Erkenntnis ist). Bei der Rückkehr aus dem Urlaub einen Monat danach fand der Arzt den Kater erfroren auf dem Eis liegend, bedauerte ihn und warf ihn auf den Misthaufen, in der Meinung, das Tier sei unwiderruflich tot, aber zu seiner Verwunderung erwachte der Kater nach einiger Zeit aus seinem Eistraum, kam auf seinen Herrn zu, leckte ihm die Hand und verlangte mit fast menschlicher Stimme was zu essen. Dergleichen hatte selbst der geschickteste indische Fakir nicht fertiggebracht, und es ist tatsächlich kein Wunder, daß sich aus diesem Katzenfall ein neuer Zweig der Medizin entwickelt hat, der alle Krankheiten mit Kälte kuriert. Und nicht nur das. Die Medizin entdeckte auch, daß man mit Hilfe von Kälte und Eis das Leben für längere Zeit bewahren kann – sogar mehrere zehntausend Jahre im voraus.
Zwanzigtausend Jahre im voraus! Aber das war doch genau das Notwendigste und Dringendste in diesem Augenblick! Zwanzigtausend Jahre – genausoviel, wie nach aller Voraussicht diese jetzige Eiszeit dauern sollte! Sie riefen es auf altertümliche Weise aus, mit trockenen Kehlen und Trommelschlägen posaunten sie diese sensationelle Nachricht aus und vermeldeten allen, daß es den Wissenschaftlern gelungen sei, Frost und Eis, die bis jetzt schon soviel tausend Menschen das Leben gekostet hatten, für die Verlängerung des Lebens auszunützen. Soviel für jetzt – und mehr nicht. Alles weitere blieb mit dem Eisschleier des wissenschaftlichen Geheimnisses bedeckt. Und dann begann das Geheimnis – das bei all dem Frost als einziges noch flüssig und nicht gefroren war – langsam zu allen Öffnungen hinauszulaufen.
Man erfuhr, daß die Ärzte tatsächlich etwas entdeckt hatten, was zwar das Leben in Wirklichkeit nicht verlängerte, aber doch streckte. Irgendein Medikament oder ein Heilverfahren, das es möglich
Weitere Kostenlose Bücher