Eis
Enteisungen könne es nur geben, wenn es auch diejenigen gibt, die sich damit befassen. Wer sollte sonst die vorübergehenden Vereisungen überwachen, sich darum kümmern, daß man nicht vor der Zeit, sondern eben genau zu der gewünschten, auf einem besonderen Blatt vermerkten Stunde wieder aufwacht – was auf jeden Fall, da es sich um Jahrhunderte handelt, kein geringes Problem darstellt und nicht das gleiche ist wie die Arbeit eines Zimmermädchens in einem Hotel oder eines Schlafwagenschaffners. Denn: Es ist eine Sache, ob ein Schaffner einen Reisenden zur rechten Zeit zu wecken vergißt und der sich nun überraschend in Ljubljana wiederfindet anstatt in Zagreb, und eine vollkommen andere, ob einer ein paar Jahrhunderte verschläft und sich, zum Beispiel, nicht zur verabredeten Zeit mit seiner Frau wiedertrifft. Aus Ljubljana kann der Reisende mit dem nächsten Zug zurückfahren und vielleicht noch zur rechten Zeit ankommen, aber was soll ein Vereister tun, der durch fremdes Verschulden drei ganze Jahrhunderte verschlafen hat, und wie soll er um dreihundert Jahre zurückkehren?
„Ich bitte Sie“, fragte mit diplomatischer Höflichkeit ein gewesener Botschaftsrat: „Ich habe eine gewisse Zeit im Ausland zugebracht und hatte hinterher gewaltige Schwierigkeiten, wieder zu einer Wohnung zu kommen. Meine Sachen waren in Magazinen verkommen – und was würde aus ihnen jetzt erst werden, wenn ich einwilligte, mich für, sagen wir einmal, tausend Jahre hibernisieren zu lassen – zu schweigen davon, was während dieser Zeit aus dem Geld werden würde, das auch jetzt schon täglich von seinem Wert verliert.“
Und seine Frau wollte wissen: „Und was soll erst aus meinem Kleidern werden? Werden sie nach drei Jahrhunderten noch in Mode sein? Heute trägt man Sack- und Trapezkleider, aber was wird modern sein, wenn man mich aus dem Eisschlaf weckt? Ich möchte nicht lächerlich altmodisch herumlaufen.“
„Beruhigen Sie sich“, tröstete sie der bissige Babic. „Sie werden dann mindestens dreihundertfünfundvierzig Jahre alt sein. In diesem Alter ist es nicht mehr unbedingt wichtig, nach der neuesten Mode gekleidet zu sein. Übrigens wird Ihnen das nach dreihundert Jahren im Eis vollkommen egal sein: Sie werden nur den Wunsch haben, so schnell und so vollständig wie möglich mit irgend etwas bedeckt zu werden.“
Man fragte sich, wie und auf Grund wessen die Auswahl getroffen werden soll, wer vereist wird und wer nicht. Man wußte, daß es nicht einmal im Eis für alle Platz gibt, und man verlangte, daß so schnell wie möglich Listen nach dem gesellschaftlichen Wert des einzelnen und bestimmter Kategorien aufgestellt werden. „Kalt und unbarmherzig vorgehen!“ schlugen die Leute vor. „Im Interesse der Menschheit und der Menschlichkeit! In die Gruppe A gehören hervorragende Intellektuelle: Wissenschaftler, Künstler und hochstehende Fachleute. Mit ihren Familien, versteht sich!“
„Und die Staatsmänner, Politiker, Direktoren, Abteilungsleiter?“ fragte Protić. „Ich möchte gern immer in ihrer Nähe sein, komme, was will. Übrigens, warum sollten die für sich etwas erwählen, das nichts taugt? Wenigstens ein paar von ihnen möchte ich neben mir haben – wenigstens als Garantie.“
Sie fingen an aufzuschreiben, in welchem Jahr und in welchem Jahrhundert sie geweckt werden wollten, und es stellte sich heraus, daß sie nicht die gleiche Zeit ausgesucht hatten und daß sie sich in der Zukunft nicht treffen würden. „Nun“, schlossen sie, „wir hängen uns sowieso gegenseitig zum Hals ‘raus. Wir hören einander nicht an und können einander nicht sehn.“ Und sie gingen wieder auseinander.
Im früheren Gästezimmer seiner Wohnung saß derweil Herr Krekić, finster und ernst. „Was meinst du“, fragte er seine Frau, und seine Stimme näselte etwas, seit ihm die Nase erfroren war, „ist diese Hibernation nicht vielleicht zu gefährlich?“
„Warum? Aus gesundheitlichen Gründen? Wegen deines Rheumas – oder weil du fürchtest, das Verfahren könnte noch nicht perfekt genug sein?“
„Nun, vielleicht ist es noch nicht genügend erprobt. Aber – es handelt sich nicht um uns, sondern um diejenigen, die in der Eiszeit am Leben bleiben. Ist das nicht zu gefährlich?“
„Gefährlich? Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber was geht das uns an. Was geht es uns an, was aus den ungeschützten Kategorien in der Eiszeit wird.“
„Du verstehst mich nicht. Ich frage mich, ob es nicht allzu gefährlich
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