Eisblut
sehen, noch einen Millimeter, in die Haut,
die sich öffnet, ein kleiner Riss, der sich verbreitert, ein kleiner Tropfen
Blut, der sich im Edelstahl spiegelt â¦
Anna hebt wie in Trance den Blick vom Skalpell. Sie sieht zu
Christian. Aber sieht ihn nicht. Sie sieht zu Gellert. Sie sieht durch Gellert
hindurch. Durch die Betonwand hindurch. Auf einen norwegischen See, an dem sie
letztes Jahr mit Christian angeln war. Sattes, grünes Gestade. Christian, der
einen Hecht aus dem Wasser holt. Klares, durch die Luft sprühendes Wasser. Die
in der Sonne schimmernden Schuppen des Hechtes. Christian, der lacht.
Christian. Annas Hand zögert. Was tut sie da? Sie sieht zu Christian.
Ein weit entferntes Klirren von zerberstendem Glas lenkt Gellerts
Blick von der Hand mit dem Skalpell ab. Anna bemerkt es. Sie hat höchstens eine
Sekunde. Mit aller Kraft wirft sie sich über den OP-Tisch, über Christians
Körper, auf dem sie landet. Christian schreit vor Schmerz auf, es passiert
alles gleichzeitig, Anna rammt das Skalpell fest und tief in Gellerts Hand, die
neben dem Trafo liegt, und zieht es wieder heraus, und Gellert schreit auf,
erschrocken mehr durch den unerwarteten Angriff als durch den Schnitt. Blut
strömt aus seiner rechten Hand, verblüfft legt er die linke darauf. Anna lässt
das Skalpell fallen, reiÃt von der Wand die neunschwänzige Katze und zieht sie
mit Schwung durch Gellerts Gesicht, aus der Drehung heraus, so wie Gellert mit
Schwung das Fleischmesser durch Frau Junckers Kehle zog. Ein Auge, sein linkes,
wird von einem Widerhaken an der Peitsche herausgerissen, wie geangelt, es
hängt an der Angel und zappelt und glitzert wie Christians norwegischer Hecht,
und Gellert schreit auf wie vorher Christian, wie vorher Anna, und hält sich
die blutverschmierte Hand vors Auge, als ihn der zweite Schlag trifft und das
halbe Ohr mitnimmt. Anna ist inzwischen an der Pistole, lässt die Peitsche
fallen und richtet die Pistole auf Gellert, und während sich Gellert noch im
Schmerz windet wegen seines Auges, steht Anna vor Gellert, nackt wie sie ist,
und zielt auf ihn.
»Anna! Schneide mich los!« Christian sagt es eindringlich, doch er
merkt, Anna achtet nicht auf ihn. Sie ist ganz fixiert auf die Pistole und ihr
Ziel. Christian sagt es noch einmal, Anna bückt sich abwesend, lässt Gellert
nicht aus den Augen, sucht mit den Fingern auf dem Boden nach dem Skalpell,
findet es, und legt es Christian neben die festgezurrte Hand, ohne hinzusehen,
ob er es denn erreichen kann. Christian krabbelt mit den Fingerspitzen danach,
aber er kommt nicht dran. Nur mit dem äuÃersten Fingernagel des linken
Ringfingers berührt er das Metall.
»Anna!«, sagt er wieder. »Bitte, Anna! Schneide mich los!«
Gellert achtet genauso wenig auf Christian wie Anna. Er nimmt die
Hand von seiner leeren Augenhöhle und richtet sich vor Anna auf. Er grinst
schmerzverzerrt. Aus der Augenhöhle quillt Gewebe. Der Sehnerv hängt ein Stück
heraus.
»Na? Was jetzt?«, fragt er Anna spöttisch.
»Warum? Warum tun Sie das alles?«, fragt Anna leise.
Gellert lacht kurz auf: »Warum leckt sich der Hund die Eier? Weil
erâs kann!«
Seine Hand nähert sich dem Trafo, langsam, fast bedächtig. Gellert
hebt die Hand über den todbringenden Knopf, und es geht ein kaum spürbarer Ruck
durch seinen Arm, als würde er Schwung holen, um den Strom mit besonderer
Intensität durch Christians Körper zu jagen.
Anna entlädt das komplette Magazin in Gellert. Sechs Schuss. Gellert
wird von der Wucht der Schüsse einen halben Meter nach hinten geschleudert,
rammt im Fallen die Kommode, das Operationsbesteck fliegt mit metallischem
Klirren durcheinander, Gellert sackt am Boden zusammen, aus der Hand, dem Auge
und sechs Einschusslöchern in seinem Körper flieÃt Blut, dann ist es plötzlich
still. Ganz behutsam legt Anna die Pistole auf die Kommode, sie ist dankbar für
die Stille nach all den Schreien und Schüssen, sie wendet sich um und schneidet
Christian los. Sie stützt ihn, als er unter schmerzvollem Stöhnen vom Tisch
steigt.
Anna blickt Christian in die Augen. Sie ist ganz ruhig. Sie sieht,
dass er es weiÃ. Er weiÃ, was sie getan hätte. Er weiÃ, dass sie Gellert auch
deswegen erschossen hat. Nicht nur, um Christian zu retten. Schon gar nicht aus
Rache für Uta Berger oder Georg Dassau oder die asiatische Prostituierte
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