Eisenkinder
mich schuldig, wie eine Ehebrecherin. Ich fühlte mich, als hätte ich mein Leben zerstört, nur leider war ich nicht gestorben, sondern lebte weiter, sogar doppelt.
Ich ging weiter in die Gemeinde, gab die brave Christin, und wenn ich zu Alexander ging, stellte ich alles in Frage.
Er gab mir, was mir in der Gemeinde fehlte. Er las die Zeitung, er konnte ebenso klug über Habermas wie über Oasis und Blur reden. Er erzählte von New York und spielte mir Musik aus den siebziger Jahren vor, Velvet Underground, Nico, Iggy Pop.
War ein Song zu Ende, blieb er noch Sekunden danach still, als würde er in die Stille hineinhorchen. Er musste nicht sofort applaudieren, er konnte Dinge genießen, annehmen.
Sein Leben war nicht perfekt, ich hatte keine Ahnung, wovon er seine Miete bezahlte und was er nach der Uni machen wollte. Er schien sich darüber keine Sorgen zu machen.
Ich erfuhr, dass er aus dem Westen kam, aus einer kleinen Stadt in Hessen, seine Familie besaß seit Ewigkeiten eine Fabrik. Ich fragte ihn nach seinen Eltern und nach seinen Geschwistern aus, von mir erzählte ich wenig. Es spielte zwischen uns keine Rolle, woher wir kamen. Obwohl, ich war ein wenig stolz darauf, mit einem West-Mann zusammen zu sein, auch wenn ich nicht hätte sagen können, was ihn speziell als West-Mann auszeichnete. Vielleicht dieses Selbstbewusstsein, dass alles schon gut wird? Eine gewisse Verschlossenheit, eine Scheu, seine dunklen Seiten zu zeigen?
Wir verbrachten viel Zeit bei ihm zu Hause. Wenn ich nachmittags aus der Bibliothek kam, dann lag er oft noch im Schlafanzug im Bett und las Autoren, die ich nicht kannte, Hunter S. Thompson oder Kurt Vonnegut. An anderen Tagen kaufte er ein und verschwand danach für mehrere Stunden, um ein großes Essen zu kochen und Freunde zu bewirten. Er war mit lauter interessanten Journalisten befreundet.
Je besser ich Alexander kennenlernte, desto perfekter erschien er mir. Er war der Typ Mann, mit dem ich alt werden wollte. Ich träumte davon, ihn meinen Eltern vorzustellen. Ich malte mir aus, wie wir das Dorf meiner Eltern besuchen würden. Ich und mein West-Mann. Über seinen einzigen Makel, seinen Unglauben, sah ich großzügig hinweg.
Verliebt zu sein machte alles andere auf einmal unwichtig.
Wir diskutierten viel über Religion, er forderte mich heraus, stellte meine Wahrheiten in Frage. Er war selbst in einer streng religiösen Familie aufgewachsen und hatte sich, als er älter wurde, mit Philosophie und liberaler Theologie beschäftigt.
Er fand es eigenartig, dass ich, eine erwachsene, intelligente Frau, mir so viele Vorschriften machen und Schuldgefühle einreden ließ. Er wollte wissen, wer in der Hölle landen würde und wie sie aussah. Er fragte, warum die evangelikalen Christen so besessen sind, das Privatleben anderer zu regeln. Warum jagen sie Homosexuelle, warum attackieren sie Ärzte von Abtreibungskliniken?
Ich wiederholte Standardargumente, die ich mir in der Gemeinde antrainiert hatte. Aber meine eigene Stimme klang hohl und nicht überzeugend.
Eines Abends, als wir uns über die Gemeinde unterhalten hatten und ich immer defensiver wurde, hatte Alexander gesagt, mir fehle Ambiguitätstoleranz. Ich musste das Wort wiederholen: Am-bi-gui-täts-toleranz. Ich hatte das noch nie gehört. Vereinfacht gesagt bedeutet es die Fähigkeit, Spannungen und Widersprüche auszuhalten. Zu erkennen, dass man sich im Leben oft nicht zwischen Gut und Böse, Schwarz und Weiß entscheiden kann, dass es Grauzonen gibt. Ich musste später öfter daran zurückdenken. An meine mangelnde Ambiguitätstoleranz. Einmal hatte ich Alexander mit in den Gottesdienst genommen. Ich wollte ihn nicht missionieren, sondern ihm einen Teil meines Lebens zeigen. Vielleicht wollte ich auch, dass alle wissen, dass ich einen Freund habe. Einen verbotenen.
Aus Sicht der Gemeinde hatte ich die Regeln gebrochen. Es gab eine Krisensitzung der Leitung, in der über mich gesprochen wurde. Die Ältesten berieten, wie es mit mir weitergehen solle. Die Bestrafung sah so aus, dass ich keine Jugendgottesdienste mehr organisieren durfte, weil ich kein Vorbild mehr sein konnte. Meine Mitbewohnerin musste mir das Urteil überbringen.
Ich wurde nicht mal angehört.
Es war kein richtiger Rauswurf, aber die Stimmung änderte sich. Die Menschen, die ich als Freunde betrachtet hatte, gingen auf Distanz. Gespräche verstummten, wenn ich den Raum betrat. Ein paar Jungs machten sich über mich lustig. Es geschah mir recht. Ich
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