Eisenkinder
was ich zu Alexander sagen würde, wenn ich ihn wieder traf. Nach ein paar Tagen rief ich ihn an und holte meine Sachen aus seiner Wohnung. Er lag auf dem Bett und rauchte, während ich meine Tasche packte. Wir sprachen nicht und sahen uns nicht wieder.
Wie sollte es weitergehen? Ich fühlte mich zu stolz, um in die Gemeinde und zu ihren Regeln zurückzugehen. Ich wollte meinen vermeintlichen Freunden nicht den Triumph gönnen, dass sie mit ihrer Meinung über Ungläubige richtiglagen. Ich hätte eingestehen müssen, einen Fehler gemacht zu haben, ich hätte Abbitte leisten müssen.
Doch es war zu viel passiert. Ich wollte mir von niemandem mehr vorschreiben lassen, wie ich zu leben habe, weder von einer Partei noch von einer Kirche oder sonstigen Institutionen.
Im Nachhinein war es vielleicht mein Glück gewesen, dass Alexander die Beziehung beendete. Er zwang mich, unabhängig zu werden, das Alleinsein auszuhalten.
Ich zog aus der christlichen WG aus und suchte mir eine kleine Wohnung. In der Zeitschriftenredaktion litt ich still. Trotz des Abschieds von der Gemeinde war ich noch immer sehr konservativ. Ich hasste die expliziten sexuellen Inhalte, wollte mir das aber auch nicht anmerken lassen und auf meine neuen Kolleginnen uncool wirken.
Ich kam mir wie einer dieser Terroristen-Schläfer vor, die sich verstellen müssen, damit ihre Tarnung nicht auffliegt. Es war schizophren. Einmal hatte die Zeitschrift einen Wettbewerb ausgeschrieben, bei dem Leserinnen selbstgeschriebene Porno-Drehbücher einreichen sollten. Die drei besten würden auf Kosten des Verlages verfilmt werden. Die Volontärinnen stellten die Jury, ich musste alle Drehbücher lesen. Es waren über zweihundert.
Meine Sabotage bestand darin, dass ich die Bücher mit den heftigsten Szenen aussortierte und nur die romantischen an die Chefredaktion weiterreichte. Die ganze Zeit mahnte mich eine Stimme im Ohr, wie verboten das sei, was ich da mache. War das Gott? Mein schlechtes Gewissen? Ich versuchte die Stimme zu unterdrücken. Nach und nach wurde sie leiser. Ich freundete mich mit meinen Kolleginnen an, ich unternahm Dienstreisen nach London und Mailand, ich bekam ein festes Gehalt. Ich ließ mich auf die neue Welt außerhalb der Mauer ein.
Der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz, der den Bestseller Gefühlsstau geschrieben hat, sagt, dass die Kinder im Osten diszipliniert und anpassungsfähig sein sollten. Im Westen wurden sie auf Konkurrenz und Durchsetzungsfähigkeit gedrillt, nach dem Motto: Sei stark, setz dich durch, dominiere. Beide Methoden erzeugten einen ähnlichen inneren Druck. Wie und ob er abgebaut wird, hänge vom späteren Erfolg im Beruf oder in der Gesellschaft ab, meint Maaz.
Ich hatte das Glück, einen Beruf zu finden, der mir das erlaubte, und Freundschaften, in denen ich mich entwickeln konnte. Ich kam in der bundesdeutschen Realität an.
Doch was kann passieren, wenn man dieses Glück nicht hatte? Wenn man keine Arbeit hatte, die Anerkennung und Sicherheit gibt? Was macht der Druck, von dem der Therapeut Maaz spricht, dann aus einem? Was wäre, nur als Gedankenspiel, aus Beate Zschäpe geworden, wenn sie als 16-Jährige 1991 eine Lehrstelle in ihrem Traumberuf gefunden hätte – und Kindergärtnerin geworden wäre? Was wäre aus Uwe Böhnhardt geworden, wenn er seinen ersten festen Job nicht gleich nach einem Monat wieder verloren hätte? Wären sie trotzdem 1998 untergetaucht?
Ich lernte nach und nach ein Land voller Selbstillusionen und Selbsthass kennen. Ein Land, das neun Jahre nach der Wende so lebte, als wäre die Uhr im Jahr 1989 stehengeblieben, als sei die Mauer nie gefallen.
Die DDR hieß nun »die neuen Länder«. Es klang wie »die neue Welt«. So hatten die Spanier ihre Kolonien bezeichnet. In den Osten überwies man viel Geld, um Straßen und Häuser zu renovieren, wollte aber von den Problemen der Menschen verschont werden.
Deutschland, lernte ich, war ein Land, in dem man jedem misstraute, der nicht so war wie man selbst. In der Redaktion, auf Dienstreisen, auf Partys traf man nie Ostler. Oder auch Ausländer. Obwohl Deutschland nach dem Regierungswechsel zu Rot-Grün nun endlich auch offiziell ein Einwanderungsland geworden war, blieb man am liebsten unter sich.
Ich wollte trotzdem nicht zurück in die Gemeinde, erfand Ausreden, nicht mehr in den Gottesdienst zu gehen.
Es gab ein Erlebnis, das besonders einschneidend war: Ich besuchte Ruth, meine ehemalige Mitbewohnerin, die inzwischen
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