Eisenkinder
oberflächlich und falsch. Ich bewegte meine Hände nicht, es war mir zu peinlich. Die Gottesdienste erinnerten mich immer mehr an Shows. Ich musste an den anderen Patienten denken, der gestorben war. Waren bibeltreue Christen die besseren Menschen? Ich dachte an Irina in Petrosawodsk, ihre Mutter, ihre Großmutter, sie glaubten nicht an Gott, hatten sie deshalb die Hölle verdient?
Ich hatte zweimal in meinem Leben einen radikalen Wandel erlebt, erst die Wende, die große, historische, dann die persönliche, die Wandlung vom atheistischen DDR -Kind zur radikal-religiösen Rockträgerin. Eine Mauer war gefallen. Als mir die Welt dahinter nicht gefiel, hatte ich mich hinter einer neuen Mauer versteckt.
Die religiöse Welt bot Schutz, aber sie konnte auch ein Gefängnis sein.
Nachdem ich aus Russland zurückgekommen war, ging ich wieder öfter an die Universität. Ich traf mich häufiger mit Kommilitoninnen, die nicht in die Gemeinde gingen. Wir freundeten uns an.
Ich meldete mich im Rechenzentrum an und bekam die erste E-Mail-Adresse meines Lebens. Mein Lieblingsprofessor redete viel vom Internet, seinem Potenzial, die Bürger bei politischen Entscheidungen stärker einzubinden und die bestehenden Machtverhältnisse auf den Kopf zu stellen. Er sprach von »electronic democracy«, lange bevor mit den Piraten eine Partei gegründet wurde, die ihren Inhalt über digitale Kanäle bestimmte.
Es war schwer vorstellbar, dass dieses Internet, das ewig brauchte, um eine neue Seite aufzubauen, eine Revolution auslösen sollte. Ich konnte mir nicht mal meine E-Mail-Adresse merken, weil sie so lang und kompliziert war. Trotzdem riss mich die Begeisterung mit. Eine Revolution hatte ich schon erlebt, warum nicht eine zweite? Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass mich etwas außerhalb der christlichen Welt bewegte.
Ich wechselte die Gemeinde, und im Nachhinein kann man sagen, dass es mein erster Versuch war, dem Regelwerk zu entfliehen. Ich bin zwar von einem Tag auf den anderen zur wiedergeborenen Christin geworden, aber der Ausstieg dauerte länger.
Anders als in den traditionellen Konfessionen war es einfach, innerhalb der Freikirchen hin und her zu wechseln. Es gab wenig feste Verbindlichkeiten, man musste sich bei niemandem an- oder abmelden.
Ich war zwar in der Anskar-Kirche getauft worden, bin aber nie Mitglied geworden, und habe als Studentin auch keine Beiträge bezahlt. Nur von Berufstätigen wird erwartet, dass sie zehn Prozent ihres Einkommens abführen. So finanzieren sich die Freikirchen. Irgendwann ging ich nicht mehr in die Anskar-Kirche, ohne dass es jemandem aus der Gemeindeleitung groß auffiel.
Ich wechselte in eine andere Freikirche, die kleiner und weniger bekannt als die Anskar-Kirche war. Sie gehörte zu dem gleichen Verbund von Gemeinden, in dem ich mein erstes ernst gemeintes Gebet gesprochen hatte.
Das Gemeindehaus lag am östlichen Stadtrand, und die Lage schuf ein ständiges Dilemma. In Hamburg-Jenfeld gab es viele Sozialhilfeempfänger und wenig Geld, während zur Gemeinde eher Gutsituierte gehörten, Ingenieure, Ärzte, Architekten. Jeden Sonntag fuhren die Gemeindemitglieder aus ihren feinen Vororten ins Problemviertel, parkten ihre großen Autos zwischen den Hochhäusern, immer in Angst vor einem Kratzer.
In Amerika hätte man vielleicht versucht, Gläubige aus den umliegenden Hochhäusern zu rekrutieren. Der frühere Pastor der Megachurch Mars Hill, Rob Bell, beschrieb einmal, wie er tagelang mit einer Gruppe Freunden durch ein Arbeiterviertel zog, an den Türen klingelte und fragte und Hilfe anbot. Eine Alleinerziehende schickte ihn schließlich dankbar zum Milchholen.
Vielleicht lag es an der hanseatischen Kühle, aber das wäre in Jenfeld undenkbar gewesen. Angebote, die für bedürftige Menschen im Viertel attraktiv gewesen wären, wurden kaum gemacht, es gab keine Suppenküche oder Hausaufgaben-Hilfe. Es war fast, als fürchte man die Armen ein wenig.
Die Gottesdienste wirkten traditioneller, sie boten weniger sinnliche, ekstatische Erlebnisse als die Anskar-Kirche, keine Zungenrede, keine Wunderheilungen.
Mir gefiel vor allem, dass es viele junge Christen gab und einen Pastor, der Daft Punk mochte und Jeans trug.
Die Jugendgruppe organisierte einmal im Monat das »Holy Date«, ein Gottesdienst für junge Erwachsene am Samstagabend. Ich wurde schnell integriert, bastelte Dekorationen, suchte Kostüme in Secondhandläden und führte selbstgeschriebene Sketche auf. Doch ich
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