Eisenkinder
merkte, dass ich mich auf die Organisationstreffen mehr freute als auf die Gottesdienste. Während der Predigt wanderten meine Gedanken weg.
Nicht-Christen kamen selten in die Gemeinde. Früher hatte mich das geärgert, jetzt war es mir egal. Ich las in der Bibel und spürte nichts mehr.
Trotzdem machte ich weiter.
Ich hatte Angst davor, mich aus der Gruppe zu lösen. Wieder allein zu sein. Die Welt hinter der Mauer bot ein Gefühl der Geborgenheit.
Mein Leben drehte sich um die Gemeinde, die längst meine Ersatzfamilie war. Ich wohnte mit meiner Freundin Ruth zusammen. Wir beteten mehrmals am Tag gemeinsam, wir teilten Gedanken und Freunde. In unserer Wohnung wurde es nie still, dauernd fanden Gebetstreffen und Andachten statt, an den Wänden pinnten Bibel- und Sinnsprüche.
Die Wohnung war ein Treffpunkt für die Jugendgruppe, wie eine kleine Gemeinde in der Gemeinde. Wenn ich mich von der Kirche abwandte, würden sich die Menschen, die ich Freunde nannte, auch abwenden. Das verstand ich auf einmal. Das war, im Nachhinein gesehen, der Moment, an dem ich begriff, dass es sich bei den meisten nicht um echte Freundschaften handelte. Man wurde nicht so angenommen, wie man ist. Man konnte sich nicht entwickeln.
Ich verbarg meine wachsenden Zweifel. Ich hatte das Denken und Fühlen der Gemeinde so verinnerlicht, dass es mir nicht in den Sinn kam, über konkrete Schritte nachzudenken, wie ich die Gemeinde verlassen könnte. Meine eigenen Gefühle nahm ich kaum noch wahr. Ich hatte mir in den Jahren nach der Wende ein Image aufgebaut, mein Selbstbild als radikale Christin. Das wollte ich nicht aufgeben.
Im Herbst 1997 fiel mir in einem meiner Seminare an der Uni ein Junge auf. Es war ein Hauptseminar, an dem nur ein Dutzend Studenten teilnahmen, die sich auf ihre Diplomprüfungen vorbereiteten. Die meisten kannte ich inzwischen, es war eine offene Atmosphäre, es wurde viel diskutiert. Mit zwei, drei Kommilitoninnen hatte ich mich angefreundet, wir trafen uns auch mal zum Kino oder zum Kaffeetrinken.
Den Jungen hatte ich zuvor noch nie gesehen.
Das Semester lief seit sechs oder acht Wochen, und ich beobachtete ihn. Wir saßen im Seminarraum in einem Kreis, und er saß schräg gegenüber, die Sonne schien direkt in sein Gesicht. Ich freute mich auf jeden Dienstagvormittag, an dem ich ihn sehen würde. Ich kam ein paar Minuten früher, um sicherzustellen, dass ich einen guten Platz bekomme. Ich selbst hielt mich für unsichtbar, ich dachte nicht, dass er mich sehen könnte. Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich auch unter der Woche an ihn dachte, während ich im Gottesdienst saß oder in der Bibel-Gruppe.
Alexander war schmal, hatte braune Haare und einen melancholischen Blick. Oder das, was ich für einen melancholischen Blick hielt. In Wahrheit sah er immer so aus, wenn er in Gedanken versunken war. Alexander sagte wenig im Seminar, machte sich auch kaum Notizen, er hörte nur zu. Er war keiner der Studenten, die vor dem Professor eine Show abzogen. Mir gefiel das. Manchmal stellte er eine Frage, auf die ich nie gekommen wäre und die mir allein deshalb immens klug erschien.
Ich hätte ihn nicht angesprochen, aber dann stand er nach einem Seminar plötzlich vor mir. Er sagte etwas, und ich war überrascht, wie seine Stimme klang, klar und selbstsicher, gar nicht schüchtern. Er stellte mir eine Frage zum Seminar oder zur Hausarbeit, ich weiß nicht mehr, worum es ging, es war auch nicht wichtig. Ich wurde rot, aber nicht so leicht wie Erwachsene, sondern so, wie Kinder rot werden, mein Gesicht brannte. Mit Mühe bekam ich ein paar Worte heraus, unzusammenhängendes Zeug, und ich wich seinem Blick aus. Ich rechnete damit, dass er lieber jemand anders fragen würde. Doch er holte etwas zu schreiben heraus und riss einen Zettel aus seinem Block und schrieb eine Nummer und seinen Namen darauf. Alexander.
Er würde sich gern weiter mit mir unterhalten. Ich erschrak und fühlte mich sofort ertappt. Ich wollte den Zettel erst wegwerfen. Das wäre vernünftig gewesen, so hätte eine vorbildliche Christin gehandelt. Ich hätte ihm sofort sagen sollen, dass ich nicht verfügbar war. Aber ich steckte den Zettel ein. Die Nummer könnte nützlich sein, wenn ich Hilfe bei einem Seminar brauche, redete ich mir ein.
Als ich nach Hause kam, schloss ich meine Zimmertür hinter mir und starrte auf den Zettel. Ich war hin- und hergerissen zwischen meinen Gefühlen und den Vorgaben der Kirche. An einem Tag musste ich nicht in
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