Eisige Schatten
denn heißen?«
»Das heißt, dass du offensichtlich eine Schwäche für deine sogenannte ›zerbrechliche‹ Übersinnliche hast. Ich lasse nicht zu, dass du mir in den Weg kommst, Ben.«
Es dauerte einen Augenblick, aber dann hatte Ben kapiert. »Ah, verstehe. Du glaubst, Cassie Neill hat Becky Smith umgebracht.«
»Und du glaubst das offensichtlich nicht.«
»Ich weiß, dass sie es nicht getan hat.« Ben hörte die Worte aus seinem Mund kommen und war mehr als ein bisschen erstaunt darüber.
Matt anscheinend nicht. »Ja, ja. Und du weißt das, weil …«
»Wie ich dir schon gesagt habe. Sie hat es nicht in sich, jemanden zu töten. Vor allem nicht so. Komm schon, Matt. Man braucht eine besondere Art von Brutalität, einer Frau die Kehle von einem Ohr zum anderen aufzuschlitzen. Erzähl mir nicht, dass du etwas Derartiges bei Cassie wahrgenommen hast.«
»Als Cop lernt man als Erstes, dass die wahrscheinlichste Erklärung vermutlich die richtige ist. Cassie Neill hat den Tatort viel zu gut beschrieben. Ich würde sagen, weil sie ihn gesehen hat.«
»Da stimme ich dir zu. Aber ich glaube nicht, dass sie hier war.«
»Dieser übersinnliche Quatsch. Ja, genau.«
»Matt, versuch doch, aufgeschlossen zu bleiben.« Erneut blickte Ben am Sheriff vorbei zu den Polizisten, die nach Hinweisen suchten, und fügte dann leise hinzu: »Erinnerst du dich an die Ahnungen, die ich hatte, als wir Kinder waren?«
»Ja.«
»Tja, jetzt hab ich wieder eine. Ich habe den Verdacht, dass die Sache hier nur der Anfang war.« Sein Blick kehrte zu Matts Gesicht zurück. »Und dieser übersinnliche Quatsch könnte das Einzige sein, das uns weiterhilft.«
Der alte Melton-Besitz bestand aus einem Haus im viktorianischen Stil und diversen Außengebäuden auf einem acht Hektar großen Grundstück zehn Meilen von der Stadt entfernt. Alexandra Melton hatte es 1976 gekauft, nachdem sie mit anscheinend genug Geld und niemandem, für den sie es ausgeben wollte, von der Westküste in Ryan’s Bluff eingetroffen war.
Sie war eine ziemliche Persönlichkeit gewesen. Ihre bevorzugte Aufmachung bestand in Jeans und T-Shirt, oft ergänzt durch ungewöhnliche Hüte oder fließende Seidentücher. Bis zu ihrem Tod durch eine Lungenentzündung im vergangenen Jahr war sie mit über sechzig immer noch eine schöne Frau gewesen – mit schwarzem Haar, das nur über ihrer linken Schläfe eine schmale silbrige Strähne aufwies –, und ihre Figur war aufsehenerregend genug geblieben, um bewundernde Blicke anzuziehen, wenn sie in die Stadt kam. Was nur selten geschah. Einmal im Monat, zum Aufstocken der Vorräte, öfter nicht.
Das Seltsame an Alex Melton war, dass sie den meisten wie eine warmherzige und kontaktfreudige Frau mit einer forschen, sachlichen Art und einem großen Herzen erschienen war. Doch sie hatte von Anfang an klargemacht, dass sie Besucher weder willkommen hieß noch brauchte und nicht vorhatte, sich in Gemeindeaktivitäten zu engagieren.
Oder Herzensangelegenheiten. Ben hatte die Geschichten gehört. Da sie so schön war, hatte mehr als ein Mann über die Jahre Versuche gestartet, nur um entschieden, wenn auch freundlich, abgewiesen zu werden. Den Gerüchten nach hatte es auch die eine oder andere Frau versucht und die gleiche entschiedene Abweisung erfahren.
Anscheinend war es nicht die Frage, zu welcher Richtung Alex Melton tendierte, sondern die Tatsache, dass sie zu gar nichts tendierte.
Ben dachte an all das, als sein Jeep die lange, ungepflasterte Auffahrt zum Haus hinauffuhr, das jetzt Alex’ Nichte gehörte. Die Abgeschiedenheit machte ihr nichts aus, hatte sie gesagt. Es war friedvoll. Oder war es zumindest gewesen.
Sie hatte ebenfalls gesagt, dass sie dreitausend Meilen »gerannt« war, um dem Schicksal zu entfliehen, das sie für sich voraussah, nur um dabei zu versagen.
Ben wusste nicht, ob er glaubte, dass Cassie Neill ihr eigenes Schicksal voraussah, aber er war davon überzeugt, dass sie vor etwas davonrannte. Und eine weitere seiner Ahnungen sagte ihm, es wäre für ihn wichtig, zu verstehen, was das war.
Er stellte den Jeep auf der halbrunden Einfahrt vor dem Haus ab und stieg aus. Einen Moment lang betrachtete er das Haus und bemerkte, dass an der Außenseite eine langsame Renovierung stattfand. Neue Fensterläden, neue Farbe auf dem Geländer der umlaufenden Veranda, und er meinte, dass die Haustür mit ihrem ovalen Glaseinsatz auch frisch gestrichen war. Das Haus hatte schon vorher keinen
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