Eisige Schatten
hinzuschauen.«
»Außer wenn Mörder hineinplatzen?«
»Ich habe versucht, ihn auszuschließen, glauben Sie mir. Ich wollte nicht wissen, was er tun würde. Was er tat.«
»Aber wenn es auch nur die geringste Chance gab, ihn aufzuhalten …«
»Das ist mir nicht gelungen, nicht wahr? Ihn aufzuhalten. Ich bin zum Sheriff gegangen. Ich war bei Ihnen. Ich habe mich sogar geöffnet und bin in seine … dunkelsten Tiefen gekrochen. Aber es hat ihn nicht aufgehalten. Es hält sie nie auf.«
»Was Detective Logan mir erzählt hat, klang aber anders.«
Cassie schüttelte den Kopf. »Irgendwann werden sie erwischt. Dabei kann ich vielleicht helfen, vielleicht auch nicht. Trotzdem sterben Menschen. Und es gibt nicht das Geringste, was ich dagegen tun kann.« Ihre Stimme war sehr leise.
»Darum haben Sie sich hierher verkrochen, nicht wahr? Hier, in dieses abgelegene Haus in der Nähe einer kleinen Stadt, wo Sie auf Frieden hoffen konnten.«
»Habe ich denn kein Recht auf Frieden? Hat das nicht jeder?«
»Ja. Aber Cassie, Sie können das, was Sie sehen, nicht ignorieren, genauso wenig, wie ich es ignorieren könnte, wenn ich sehen würde, wie jemand an einer Straßenecke erstochen wird. Ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, um zu helfen. Genau wie Sie.«
Sie atmete ein. »Ich habe zehn Jahre lang alles getan, was ich konnte. Ich bin müde. Ich möchte nur in Ruhe gelassen werden.«
»Glauben Sie, er wird Sie in Ruhe lassen?«
Sie schwieg.
»Cassie?«
»Nein«, flüsterte sie.
Ben wünschte sich, sie würde ihn wieder anschauen, aber ihr Blick schien an der Kaffeetasse festzukleben. »Dann helfen Sie uns. Becky Smith war erst zwanzig, Cassie. Eine Collegestudentin, die Kinder liebte und Lehrerin werden wollte. Sie hatte ihre Chance verdient. Helfen Sie uns, den Schweinehund zu fangen, der ihr diese Chance genommen hat.«
»Sie wissen nicht, was Sie von mir verlangen.«
»Ich habe so eine Ahnung. Ich weiß, dass es Ihnen viel abverlangen wird. Aber wir brauchen Ihre Hilfe. Wir müssen alles nur Mögliche tun, um diesen Kerl zu schnappen, bevor er sich aus dem Staub macht. Oder bevor er erneut mordet.«
Endlich wandte sie ihm ihren Blick zu, und in der Tiefe ihrer Augen lauerte etwas, das ihn zusammenzucken ließ. Etwas Kleines und Schmerzvolles.
»Also gut«, sagte Cassie leise. »Ich hole meine Jacke.«
»Und?« Der Sheriff war nicht offen feindselig, aber annähernd. »Raus damit.«
Sie waren in Matts Büro, saßen nebeneinander auf den Besucherstühlen vor dem alten Schreibtisch mit der Schieferplatte, der schon Matts Vater gehört hatte, und der Sheriff war bereits übelster Stimmung, da seine Leute am Tatort überhaupt nichts Brauchbares gefunden hatten.
Und er glaubte nicht an diesen übersinnlichen Quatsch, absolut nicht.
»Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als ich schon getan habe«, sagte Cassie. »Der Mörder ist männlich …«
»Wie können Sie sich dessen so sicher sein?«, fragte Ben. »Sie sagten, Identität sei keine bewusste Sache. Das Geschlecht schon?«
»Manchmal. Aber in diesem Fall …« Sie wich seinem Blick aus, schaute auf ihre im Schoß verschränkten Hände. »Als er sie beobachtete … plante, was er ihr antun würde … war er sich … seiner Erektion bewusst.«
Es war der Sheriff, der leicht errötete und sich auf seinem Stuhl bewegte, doch seine Stimme war scharf. »Das war kein sexueller Übergriff.«
»Diese Übergriffe sind immer sexuell.«
»Hier fand aber kein sexueller Übergriff statt«, beharrte er. »Laut den vorläufigen Berichten wurde weder an noch in der Nähe ihrer Leiche Sperma gefunden. Zum Teufel, sie hatte ja sogar ihr Höschen noch an.«
»Das spielt keine Rolle. Er war in einem Zustand sexueller Erregung, als er sie verfolgte, und er hatte einen Erguss, als er sie tötete.«
»Mein Gott, waren Sie dabei die ganze Zeit in seinem Kopf?«, fragte Ben bestürzt.
»Ja. Zuerst, als er hinter ihr her war, und dann wieder, nachdem er sie gefesselt hatte und … und bereit war, ihr wehzutun. Da dauerte die Verbindung ein paar Minuten. Er brauchte nicht lange, und in dem Moment, als er sie tötete … gelang es mir, die Verbindung zu kappen.«
Ben fragte sich, wie es sein musste, einen geisteskranken Mörder beim Orgasmus zu beobachten – ihn vielleicht sogar direkt mitzuerleben –, und dachte, dass es zweifellos eine Erinnerung war, von der sich Cassie mit Freuden trennen würde. Zum ersten Mal begann er wirklich zu verstehen, was hinter
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