Eisige Schatten
beobachtete?«
Sie zögerte, und ihr dünnes Gesicht verspannte sich. Dann sagte sie: »Ich war … in seinem Kopf, nur für ein paar Sekunden. Sah mit seinen Augen, hörte seine Gedanken. Er hat sie beobachtet und beschlossen, sie umzubringen. Bald.«
»Wer ist er?«
»Das weiß ich nicht.«
»Moment mal. Sie behaupten, im Kopf von dem Kerl gewesen zu sein, aber Sie wissen nicht, wer er ist?«
»Nein.« Sie antwortete geduldig, als sei das eine oft gestellte Frage. »Die eigene Identität ist meistens kein bewusster Gedanke. Er weiß, wer er ist, also hat er nicht darüber nachgedacht. Und ich habe keinen Teil von ihm gesehen, weder seine Hände noch seine Kleidung- oder sein Spiegelbild. Ich weiß nicht, wer er ist. Ich weiß nicht, wie er aussieht.«
»Aber Sie wissen, dass er jemanden umbringen wird.«
»Ja.«
Ben holte Luft. »Warum sind Sie damit nicht zum Sheriff gegangen?«
»Ich war bei ihm, letzte Woche. Er hat mir nicht geglaubt.«
»Und darum sind Sie zu mir gekommen.«
»Ja.«
Ben griff nach einem Stift und drehte ihn in den Fingern. »Was erwarten Sie von mir? Was soll ich deswegen unternehmen?«
»Mir glauben«, antwortete sie schlicht. Zum ersten Mal blickte sie ihn direkt an.
Ben hatte das Gefühl, als habe sie über den Schreibtisch gegriffen und ihre Hand auf ihn gelegt.
Eine warme Hand.
Er hielt ihren Blick fest. »Und angenommen, ich kann mich dazu durchringen? Können Sie mir irgendwas erzählen, wodurch sich dieser Mord verhindern lässt?«
»Nein. Noch … nicht.« Sie schüttelte den Kopf, ohne zu blinzeln. »Möglicherweise sehe ich noch mehr. Vielleicht auch nicht. Die Tatsache, dass ich zu ihm Verbindung aufnehmen konnte, ohne etwas in der Hand zu halten, das er berührt hat, ohne ihn zu kennen, ist ungewöhnlich. Es muss an der … Intensität seiner Gedanken und Pläne gelegen haben, seiner Begierde, die mich erreicht hat. Vielleicht habe ich, ohne es zu wissen, etwas berührt, das er berührt hatte. Oder er könnte in der Nähe gewesen sein, und ich war deswegen in der Lage, die Schatten zu stehlen …« Sie brach abrupt ab und blickte wieder nach unten.
Sofort vermisste er die warme Hand. Das war eine weitere Überraschung.
»Die Schatten zu stehlen?«
Widerstrebend erwiderte Cassie: »So nenne ich es, wenn ich in den Kopf eines Mörders schlüpfen kann und hier und da etwas von seinen Gedanken, seinen Plänen aufschnappe. Ihre Köpfe sind meist dunkel … erfüllt von Schatten.« Ihre Finger bewegten sich jetzt ununterbrochen, die nervöse Energie in starkem Kontrast zu ihrem ruhigen Gesicht und der Stimme.
»Sie haben das schon früher gemacht?«
Sie nickte.
»In Zusammenarbeit mit der Polizei?«
»In Los Angeles. Einige der dortigen Polizisten sind recht aufgeschlossen, wenn es darum geht, die Hilfe von Paragnosten in Anspruch zu nehmen – vor allem, wenn diese Paragnosten nicht auf Publicity aus sind.«
Ben lehnte sich zurück und musterte sie. Schätzte sie ein. »Los Angeles. Und was hat Sie dann quer durch das ganze Land in unsere kleine Stadt geführt?«
Ihr aufwärtsgerichteter Blick war wieder etwas wachsamer, fand er. Das machte ihn misstrauisch.
»Eine Erbschaft«, antwortete sie obenhin. »Meine Tante ist letztes Jahr gestorben und hat mir ein Haus in Ryan’s Bluff vermacht.«
Ben runzelte die Stirn. »Wer war Ihre Tante?«
»Alexandra Melton.«
Er war verblüfft und wusste, dass man ihm das ansah. »Miss Melton war eine recht bekannte … Persönlichkeit in Ryans Bluff.«
»Sie galt auch in unserer Familie als ziemliche Persönlichkeit.«
»Hier gab es das Gerücht, sie habe mit ihrer Familie gebrochen.«
»Sie war die ältere Schwester meiner Mutter. Die beiden haben sich vor Jahren zerstritten, als ich noch ein Kind war. Niemand hat mir je erzählt, worum es dabei ging. Ich habe Tante Alex nie wiedergesehen. Im vergangenen Jahr die Nachricht zu bekommen, dass sie mir ein Haus und ein paar Hektar Land in North Carolina vermacht hatte, war ein echter Schock.«
»Und Sie beschlossen, dreitausend Meilen quer durch das Land hierher umzuziehen.«
Sie zögerte. »Ich weiß nicht, ob ich für immer bleibe. Ich hatte die Großstadt satt und wollte einige Zeit an einem Ort verbringen, wo es einen richtigen Winter gibt.«
»Das Melton-Haus ist ziemlich abgelegen.«
»Das macht mir nichts aus. Es war sehr friedlich dort.«
»Bis jetzt.«
»Bis jetzt.«
Nach einem Augenblick sagte Ben: »Geben Sie mir den Namen und eine Telefonnummer von
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