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Eisige Versuchung

Eisige Versuchung

Titel: Eisige Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Henke
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darin einfach zu dämlich verhielten. Völlig unrealistisch! Niemand war derart tollpatschig. In diesem Moment revidierte sie ihre Meinung.
    Einige Sekunden lang hielt sie sein Fußgelenk noch fest, dann benutzte sie lieber ihre Hände dazu, sich den Schnee von Kinn und Stirn zu wischen. Zumindest hatte sie erreicht, dass er stehen blieb. Er schaute auf sie hinab, das spürte sie.
    Aber noch stand sie nicht auf, sondern starrte auf seine Füße, die nicht in Schuhen steckten. Fror er denn gar nicht? Er zitterte nicht einmal.
    Ihr Blick glitt höher zu seinen Beinen, die nicht von einer Hose verhüllt wurden. Kräftige Waden, muskulöse Oberschenkel. »Nicht schlecht!«, dachte sie unpassenderweise. Er trieb offenbar mehr Sport als sie. Sie konnte keine Gänsehaut ausmachen. Seine Haut wirkte jedoch wie weißer Marmor – dick, widerstandsfähig und wächsern.
    Was mochte sie an seinen Lenden erwarten? Nicht hinsehen! Nicht hinsehen! Nicht hinsehen! Es wäre anständig gewesen, sich zu erheben und ihm ins Gesicht und nirgendwo sonst hinzuschauen, seine Intimsphäre nicht zu verletzen und ihrer Neugierde zu widerstehen. Aber wieso lief dieser Kerl auch im Adamskostüm hier herum! Er hielt noch nicht einmal seine Hände vor sein Geschlecht.
    Sie hob ihren Kopf und stockte. Was zum Teufel war das? Staunend klimperte sie mit den Wimpern, um die Flocken, die daran klebten, loszuwerden und klarer zu sehen. Er trug eine Art Lendenschurz und schien aus Watte zu sein. Oder waren das etwa …? Ein verrückter Gedanke keimte in ihr auf. Es machte den Anschein, als hätten sich Schneekristalle an seine Lenden geheftet, um sein bestes Stück zu verbergen. Unweigerlich lief ihr Kopfkino auf Hochtouren, und sie stellte sich den Schaft unter dem Eishöschen vor: zu Rosinengröße geschrumpft.
    Beinahe hätte sie losgelacht. Lächelnd musterte sie den muskulösen Oberkörper des Fremden. Doch als sie seine finstere Miene bemerkte, verging ihr das Grinsen sogleich.
    Rasch stand sie auf und klopfte ihre Hose und ihre Jacke ab. Hoffentlich war ihre Kamera nicht beschädigt! Als Shade sie eingehend begutachtete, bemerkte der Unbekannte scharf: »Ich würde das lassen!«
    Seine Stimme war tief und dunkel. Shade nahm ein Vibrieren darin wahr, das sie als erotisch empfand. Er betonte jede Silbe und strahlte Selbstbewusstsein aus. So aufrecht, wie er vor ihr stand, erinnerte er sie an den Krieger eines Indianerstamms. Nur – was trug er auf seinem Rücken? Waren das zwei Schwerter mit hellen Griffen, die in mit weißen Federn geschmückten Scheiden steckten?
    Erst jetzt merkte sie, dass der Sturm aufgehört hatte, offenbar genauso abrupt, wie er angefangen hatte. Allerdings schneite es nun wieder stark, sodass Shade den Fremden wie durch einen Perlenvorhang hindurch sah.
    Das alles war sehr merkwürdig. Der vorzeitige Winter, dieser Mann, der die Kälte nicht zu spüren schien, ihre Reaktion auf diesen Sonderling … Statt abgeschreckt zu sein, wurde ihr heiß. Ihr Puls ging schneller, aber sie schaffte es nicht, sich einzureden, dass ihr beherzter Sprung die Ursache dafür war.
    Eben noch hatte sie geglaubt, dass ein Nackter ihr nicht gefährlich werden konnte. Nun wusste sie es besser: Dieser Kerl brauchte keine Waffen, um zu kämpfen. Seine Muskeln besaßen gewiss genug Kraft, um sich zu verteidigen oder lästige Verfolgerinnen loszuwerden. Er machte keineswegs einen verwirrten oder schutzbedürftigen Eindruck auf sie – im Gegenteil: Sie hatte plötzlich das Gefühl, diejenige zu sein, die Schutz benötigte – vor ihm.
    Dennoch fühlte sie sich auch zu ihm hingezogen. Wie eine Motte zum Licht, das in Wahrheit ihren Tod bedeutete. Denn trotz seines langen silbrigen Haars, das er am Hinterkopf mit einem Lederband straff zusammengebunden hatte, dem alabasterfarbenen Teint und dem weißen Lendenschurz wirkte er zwar wie eine Lichtgestalt … aber er besaß eine finstere Aura.
    Als wäre er in Wahrheit ein schwarzes Loch, das alles, was ihm zu nah kam, einsog und auf ewig auslöschte.
    Wie ein geheimnisvoller Brunnenschacht, in den man fiel, wenn man zu neugierig wurde und sehen wollte, was sich auf dem Grund befand.
    Seine Augen waren so wunderschön, dass Shade ihren Blick nicht von ihnen nehmen konnte, und gleichzeitig waren sie so kalt, dass sie meinte, eine eisige Hand würde nach ihrem Herzen greifen.
    »Du hättest mich nicht sehen dürfen«, brummte er.
    »Willst du meine Skijacke?«, fragte sie, um ihre aufkeimende Furcht zu

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