Eisige Versuchung
zu besichtigen. Schneetouren fanden wenig Anklang, weil die Städter meistens zu bequem dazu waren. Höchstens Ausflüge mit dem Schneemobil wurden gebucht, aber diese waren vielen zu teuer. Außerdem schlossen der Wohnmobil- und Zeltplatz sowie der Jachthafen am Staudamm, sobald es kalt wurde.
Shade konnte ihre Mutter verstehen. Zwanzig Jahre lang hatte Sybill Mallory ihren Mann zu überreden versucht, endlich aus dieser Einöde wegzuziehen. Connor jedoch liebte die Idylle und Abgeschiedenheit, eben weil er selten in den Genuss kam, sie zu genießen, denn damals arbeitete er als Truckfahrer. Im Valley hatte es schon immer wenige Jobs gegeben. Für ihn war Bridgeport ein Rückzugsort, während Sybill den Ort als Gefängnis betrachtete. Weiter als nach Sonora Junction, wo sie als Schreibkraft in einem Sägewerk angestellt war, kam sie selten.
Als Shade zehn Jahre alt geworden war, hatte Sybill ihrem Mann die Pistole auf die Brust gesetzt. Die Streitereien klangen Shade jetzt noch im Ohr, auch die Vorwürfe ihrer Mutter, ihr Vater hätte nichts aus seinem Leben gemacht. Um seine Familie nicht zu verlieren, gab er schließlich nach und zog mit ihnen in »die Stadt der Engel«. Doch einen besseren Job fand er aufgrund seiner geringen Qualifikation in Los Angeles nicht. Er lieferte Pakete aus, was ihn zunehmend unzufriedener werden ließ.
In L.A. lebte Sybill auf, Connor jedoch fühlte sich an die Leine gelegt. Nach zwei Jahren reichte er die Scheidung ein, und Shades Mom projizierte ihren Ehrgeiz nicht länger auf ihn, sondern auf ihre Tochter. Shade war die Erste in den Familien Grimes und Mallory, die studierte. Und was hatte sie nun davon? Eine Stellung als Handlanger am Meteorologischen Institut, einen Kredit, den sie bis zu ihrem Lebensende abbezahlen würde, und eine Mutter, die ganze sechs Monate zufriedengestellt gewesen war, bevor sie anfing, bei jedem Treffen zu fragen, wann Shade denn endlich mal eine feste Beziehung zu führen gedachte, denn sie, Sybill, wollte ja irgendwann auch einmal Oma werden.
Mit einem Mal fühlte es sich gar nicht so übel an, weit weg von L.A. zu sein. Shade lächelte und marschierte forscher weiter.
Plötzlich nahm sie aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahr. Zuerst glaubte sie, einen Raubvogel mit großen Schwingen gesehen zu haben, aber als sie in die Richtung schaute, war dort nichts.
Jeder Städter hätte sich aus Angst vor einem Bären oder einem anderen großen Wildtier an den Abstieg gemacht. Shade jedoch, die ihre Herkunft nicht verleugnen konnte, zog rasch ihre Handschuhe aus, stopfte sie in die Jackentasche und packte ihre Kamera. Neugierig lief sie in die Richtung, sodass die herabfallenden Flocken auseinanderstoben.
Sie trieb den Schnee vor ihren Boots her und pflügte durch das weiße Pulver. Die Luft schien nun doch kälter, sie brannte in Shades Lungen, als würde sie sie davor warnen, noch weiter zu gehen. Das Knistern der Schneekristalle wurde lauter, dafür hörte sie das Knirschen unter ihren Sohlen nicht mehr. Irritiert blieb sie stehen und betrachtete ihre Stiefel.
Plötzlich machte sie erneut eine Bewegung aus. Diesmal sah sie schneller hin. Überrascht öffnete sie den Mund.
War da gerade ein nackter Mann zwischen den Bäumen verschwunden?
Zweites Kapitel
Ebenso wunderschön wie eiskalt
Zuerst fragte sich Shade, ob dieser Verrückte etwas mit dem Winter zu tun haben könnte, aber dann schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Angeblich war der erste Gedanke immer der richtige. Das konnte sie hiermit widerlegen, denn ihre spontane Assoziation war kompletter Blödsinn! Sie hatte nur das, was sie sah, nämlich diesen Mann, mit ihren Überlegungen gekoppelt. Herausgekommen war eine Idee, die völlig an den Haaren herbeigezogen war.
Offensichtlich brachte der weiße Niederschlag am Oktoberbeginn nicht nur die Tiere durcheinander, sondern auch die Menschen.
»Damit meine ich ihn, nicht mich«, stellte sie vor sich selbst klar und lief hinter ihm her den Pfad hinauf, so schnell es die Schneedecke zuließ, um ihm zu helfen. Offensichtlich war er in Not. Ihr kam der Gedanke, dass er gefährlich sein konnte, verwirrt und unberechenbar. Aber so, wie sie Menschen davon abhielt, Steine nach streunenden Hunden zu werfen oder nach ihnen zu treten, obwohl Shade dabei Gefahr lief, selbst zur Zielscheibe zu werden, konnte sie auch diesmal nicht anders, als ihrem Beschützerinstinkt zu folgen.
Doch sie kam viel zu langsam voran. Es schien ihr, als würden
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