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Eisige Versuchung

Eisige Versuchung

Titel: Eisige Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Henke
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Erstes Kapitel
    Weißes Wunder
    »Was zur Hölle ist das?« Shade Mallory bog auf Höhe des Bridgeport Reservoirs von der Sweetwater Road in einen Waldweg ein, wendete ihren Geländewagen und parkte an der Straße. Staunend neigte sie sich vor, spähte durch die Frontscheibe ihres SUV und ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen.
    Sie sah es mit eigenen Augen und konnte es dennoch kaum glauben.
    Um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte, ließ sie das Seitenfenster herunter. Sie lauschte dem Rascheln des Herbstlaubes, lehnte sich heraus und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Wie viel Grad mochten es hier, wo sie stand, sein? Vielleicht fünfzehn?
    Somit betrug es fünfzehn Grad mehr als auf der anderen Seite des Staudamms.
    Am Morgen war Shade in einer kleinen Maschine von Los Angeles zum Bryant-Field-Flughafen geflogen, hatte sich dort einen Wagen gemietet und war zur Pension Wild Goose gefahren, um ihr reserviertes Zimmer zu beziehen. Ein langärmeliges T-Shirt hatte an diesem goldenen Oktobertag gereicht. Doch bei dem, was sie hier sah, war sie froh, ihre Skijacke auf den Rücksitz gelegt zu haben.
    »Verrückt!« Fasziniert keuchte Shade. Dort hinter dem Bridgeport Reservoir schneite es. Und nur dort! Ein Vorhang aus dicken, träge zur Erde schwebenden Schneeflocken hüllte den Mount Jackson ein. Selbst der künstliche See am Fuße des Berges war zur Hälfte gefroren. Während sich hin und wieder das Wasser in der Nähe des Ufers, an dem die Sweetwater Road von Bridgeport zum Murphy Pond entlangführte, kräuselte, weil eine Forelle dicht unter der Oberfläche schwamm, bedeckte gegenüber eine Eiskruste die Randzone.
    Shade rieb sich die Augen. Auf dieser Seite des Dammes, der den Walker River am Ostarm staute, herrschte noch Herbst, während der Winter den Mount Jackson bereits fest in der Hand hatte, als würde der Berg in einem anderen Landkreis als dem Mono County liegen.
    »Das ist nicht normal!« Sie war im Mammuth Hospital Bridgeport geboren, hatte die ersten zehn Jahre ihres Lebens in der Sierra Nevada verbracht und kannte daher das Wetter im Tal aus erster Hand.
    Ein Fremder, zudem wenn er aus dem fernen L.A. stammte, mochte den frühzeitigen Winterbeginn unter »Wetterkapriolen« verbuchen. Tsunamis an den Küsten Asiens waren keine Jahrhundertphänomene mehr. Die Erdbeben in Europa nahmen an Stärke zu. Immer mehr Tornados jagten über den Mittleren Westen der USA hinweg. Vulkanausbrüche auf Hawaii, auf Island und in Chile traten häufiger als zuvor auf. Da waren ein paar vorzeitige Schneeflocken nicht weiter beachtenswert, so schien es.
    Shade konnte das Desinteresse ihrer Kollegen verstehen, aber ihre persönliche Erfahrung und ihr Bauchgefühl hatten sie dennoch hierhergeführt. »Wenn ihr das hier sehen könntet, würdet ihr eure Meinung ändern.«
    Mühsam hatte sie ihre Vorgesetzte Socorro »Sonny« LaMotta dazu überreden müssen, sie ins Hochgebirge an der Grenze der Staaten Kalifornien und Nevada reisen zu lassen. Sonny hatte Shade zwei Tage zugestanden, um sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen, aber diese gigantische Wolke, aus der es unablässig auf den Mount Jackson schneite, sicherte ihr mindestens eine ganze Woche zu.
    Aufgeregt nahm sie ihre Kamera aus der Fototasche, die neben dem Koffer mit den Messgeräten auf dem Beifahrersitz lag, und schoss ein paar Bilder, um sie Sonny zu mailen, sobald sie zurück in der Pension wäre. An manchen Stellen wirkten die Schneeflocken wie ein weißer Perlenvorhang.
    Shade legte den Fotoapparat weg, startete ihren Wagen und lenkte ihn auf die Sweetwater Road zurück. Neugierig fuhr sie schneller als erlaubt die Route 182 hoch bis zum Staudamm. Während sie noch überlegte, wie sie ihren Großeltern erklären sollte, dass sie nicht bei ihnen, sondern im Gasthof Wilde Goose übernachtete, parkte sie den SUV inmitten einer Winterlandschaft auf einem Pfad, den eigentlich nur die Ranger benutzen durften.
    Natürlich bestand die Möglichkeit, sich gar nicht bei ihren Großeltern zu melden, aber das brachte sie nicht übers Herz. Außerdem kannte in der kleinen Gemeinde fast jeder jeden. Shade hatte keine Ahnung, wie viele Menschen aktuell in Bridgeport lebten, aber es war bekannt, dass die Einwohnerzahl seit der Jahrtausendwende stetig zurückging. Zurzeit konnten es nicht mehr als sechshundert Einwohner sein. Womöglich wussten Maud und Albert Grimes, den alle in der Familie nur Baba nannten, jetzt schon, dass

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