Eisige Versuchung
ihre Enkelin sich im Ort aufhielt.
Aber Shade konnte nicht bei ihnen wohnen. Sie wollte nicht daran erinnert werden, dass Kid Boyd mit seinen Eltern im Haus nebenan gelebt hatte. Es würde schon schwer genug werden, ihre Großeltern zu besuchen. Selbst nach all den Jahren spürte Shade einen Stein im Magen, wenn sie nur an Kid dachte. Sie war fest davon ausgegangen, dass Mr. und Mrs. Boyd wegziehen würden, nach dem, was vorgefallen war, aber das hatten sie zu Shades Überraschung nicht getan. Bei jedem Besuch stahl sie sich an ihren Fenstern vorbei und hoffte, sie nicht auf der Straße zu treffen. Immer wenn sie mit Maud und Albert zusammensaß, hatte sie den Eindruck, dass alle es tunlichst vermieden, das Gespräch auf Kid zu lenken, auch ihre Eltern oder Nachbarn, wenn diese den Treffen beiwohnten. Besuche bei ihren Großeltern liefen stets verkrampft ab.
Kid Boyd hing wie ein Damoklesschwert über Shades Kopf, wenn sie in Bridgeport weilte. Ein Grund mehr, weshalb sie nie lange blieb und rasch nach L.A. zurückreiste.
Ein weiterer waren die Abgeschiedenheit und das Kleinbürgertum. Sie nahm ihre Wollmütze und schaute in den Rückspiegel. Vorsichtig zog Shade sie an, wusste aber jetzt schon, dass ihre kurzen schwarzen Haare, an denen sie am Morgen kunstvoll so lange herumgezupft hatte, bis sie aussahen, als käme sie frisch aus dem Bett, später am Kopf kleben würden. Seufzend schob sie einige Strähnen unter die Mütze. Am Vortag hatte sie sich ihren Schopf rot getönt, aber er hatte die Farbe nicht intensiv genug angenommen, sodass er nur rötlich schimmerte. Sie befeuchtete ein Papiertaschentuch und wischte unter ihren Augen entlang, weil ihr schwarzer Kajal verschmiert war.
»Kriegsbemalung«, so nannte ihr Dad es, wenn sie sich übermäßig schminkte. Vielleicht hatte er damit gar nicht so unrecht. Warum war sie ausgerechnet am Vortag auf die Idee gekommen, sich ihre Stachelfrisur blutrot zu färben? Am Morgen hatte sie doppelt so viel Wimperntusche wie üblich aufgetragen und ihr größtes Augenbrauenpiercing – eine Banane mit einem Gecko aus Titan, der über ihre Stirn zu laufen schien – ausgewählt.
»Um zu rebellieren wie ein bockiger Teenager.« Sie schnaubte und löste den Gurt. »Wieso musstest du unbedingt herkommen, wenn du eine solche Abneigung empfindest?«
Wie ein Verbrecher, der an den Tatort zurückkehrte. Stöhnend massierte Shade ihren Nacken. Sie war verspannt, nicht nur vom Fliegen, sondern auch, weil sie wieder einmal schlecht geschlafen hatte. Nachts hielt das Rauschen des Verkehrs, das die Großstädter nicht einmal wahrnahmen, sie oft stundenlang wach.
Es wurde langsam kalt im Wageninneren. Shade zog ihre Skijacke an und murmelte vor sich hin: »Das ist deine Chance, Mallory, nutze sie! Lass dich nicht von deiner Angst kontrollieren, sondern kontrolliere deine Angst!«
Wie vor zwei Jahren, als ein Mann sie nachts in eine Seitengasse gedrängt und ihre Geldbörse verlangt hatte. Obwohl er ein Messer in der Hand hielt, hatte sie weit ausgeholt und ihn mit ihrer Laptop-Tasche geschlagen. Aus Wut oder Panik, sie wusste es selbst nicht, hieb sie ihm die Tasche mit den Weinflaschen über den Kopf, was ihn endgültig zu Fall brachte. Danach lief sie weg – aus Furcht, aber auch, weil es ihr unangenehm war, den Cops gegenüber zuzugeben, dass sie so viel Alkohol bei sich trug. Nach diesem schrecklichen Erlebnis besuchte sie einen Selbstverteidigungskurs und gab es augenblicklich auf, ihre Schlafprobleme mit Spirituosen zu bekämpfen.
Als Kind war sie stundenlang durch die Wälder in Bridgeport gestreift. Oft mit Kid zusammen. Seitdem sie jedoch nach L.A. gezogen war, war sie nur in den Wald gegangen, wenn ihr Job es verlangte.
»Sonny!«, fiel es Shade wieder ein. Sie musste ihre Chefin dringend anrufen und einen ersten Bericht erstatten. Aber erst wollte sie ein Stück weit den Hügel hochmarschieren und von einer Anhöhe inmitten des Schnees ein Foto von dem sonnigen Tal schießen.
»Tief durchatmen! Du willst schließlich endlich bessere Jobs zugeteilt bekommen.« Sie wickelte ihren Schal eng um ihren Hals, hängte sich die Kamera um und zog ihre Handschuhe an.
Shade war froh gewesen, als Socorro LaMotte ihr die Stelle gegeben hatte, denn sie hatte zwar ihr Meteorologie-Studium abgeschlossen, aber ihre Noten ließen zu wünschen übrig. Monatelang war sie Klinken putzen gegangen, hatte sich sogar in Seattle und Florida beworben. Vergeblich. Allein in ihrem Studienjahr waren
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