Eisige Versuchung
sich die Flocken am Boden nun doch immer höher türmen. Inzwischen reichten sie schon an den Rand ihrer Boots heran. Das Laufen wurde immer beschwerlicher. Sie blieb stehen und stemmte die Hände in die Seiten, weil es sich anfühlte, als kniffe jemand sie von innen. Keuchend schaute sie sich um. Wo war der Kerl hin?
Dort machte sie Spuren aus. Und dann sah sie ihn auch wieder – wenn auch nur für wenige Sekunden, denn er verschwand hinter zwei dicht nebeneinanderstehenden Tannen. Er schien einen Schwan auf dem Rücken zu tragen. Das wurde ja immer verrückter!
»Entweder spinnt er oder ich«, feixte Shade und gab bei dem Voting ihre Stimme für ihn ab.
Ungläubig rieb sie sich die Augen. Dann trieb sie sich den Hang wieder ein Stück weit hinab, um dem Mann den Weg abzuschneiden. Sie musste ihm schließlich helfen! Er würde hier draußen ohne Kleidung erfrieren. Sie wollte ihm ihre Jacke über die Schulter hängen, ihn zu ihrem Wagen bringen und in die Stadt fahren.
Außerdem würde ein nackter Mann ihr wohl kaum gefährlich werden.
Der Kneifer, der in ihren Hüften saß, fing an, mit einem spitzen Gegenstand ihre Seiten zu traktieren. Trotz Schmerzen kämpfte sie sich weiter. Als sie jedoch bei den Tannen eintraf, kam plötzlich Wind auf. Eine Böe wirbelte ihr Schnee ins Gesicht, sodass sie sich kurz abwenden musste. Danach stellte sie verwundert fest, dass der Fremde nicht mehr in seinem Versteck weilte.
Ein Schatten zu ihrer Linken zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der Unbekannte – immer bedacht darauf, sich hinter Bäumen oder Sträuchern zu schützen – hatte sie offenbar getäuscht, denn er floh längst zur anderen Seite und befand sich nun dort, wo sie zuvor innegehalten hatte, um nach Luft zu ringen.
»Schuft!« Das wollte Shade nicht auf sich sitzen lassen. Sie hatte einmal einen Taschendieb in L.A. drei Blocks durch die nahezu verstopften Straßen und Bürgersteige der Innenstadt und über die unheimlichen und ihr bis dato unbekannten Hinterhöfe und Schleichwege verfolgt, bis sie ihn schließlich gestellt hatte. Nun gut, er war erst acht oder neun Jahre alt gewesen, weshalb sie ihm, erschrocken über sein junges Aussehen und den hungrigen Blick, zehn Dollar in die Hand gedrückt und ihn laufen gelassen hatte. Dennoch gab sie nicht so leicht auf, schlechte Kondition hin oder her.
Sie hatte den Nackten nun einmal entdeckt, jetzt fühlte sie sich für ihn verantwortlich. Auf keinen Fall würde sie ihn im Wald zurücklassen, um irgendwann in den nächsten Tagen in der Zeitung zu lesen, dass ein Verrückter in der Sierra Nevada erfroren war!
»Na warte!«, dachte sie und nahm die Herausforderung an. Sie schlug einige Haken, jagte ihm hinterher, änderte plötzlich ihre Richtung und verwirrte ihn anscheinend, denn er schlüpfte zwischen zwei Sträuchern hindurch, machte zwei Schritte vorwärts und kehrte abrupt zurück, um sich in das Dickicht zu kauern, offenbar davon überzeugt, dass Shade ihn nicht bemerkt hatte.
Als sie vor ihm stand, schrak er auf. Doch sie hatte nicht einmal die Chance, ihn genauer zu betrachten, denn plötzlich fegte ein kräftiger Wind über den Hang. Die Baumkronen bogen sich und schüttelten die Schneeflocken ab. Shade riss ihre Hände hoch, um ihr Gesicht abzuschirmen. Stecknadelgroße Hagelkörner trafen sie. Während sie mit einer Hand ihre Mütze tiefer über ihre Ohren zog und den Kragen ihrer Skijacke hochklappte, hielt sie ihren Arm schützend nach oben.
Blinzelnd hielt sie nach dem Fremden Ausschau. Sie musste ihm ihre Jacke geben, sonst würde er nicht lange überleben. Doch er lief schon wieder weg! Er hatte ihr bereits seinen Rücken zugewandt und stapfte nun davon. Durch den Schneesturm konnte sie vage den Schwan auf seinem Rücken ausmachen. Es musste sich um ein riesiges Tier handeln – oder wohl eher um eine Art Rucksack.
Entweder erkannte er nicht, dass sie ihn retten wollte, oder er wollte nicht gerettet werden. Der Grund für sein ausgeprägtes Fluchtverhalten war zweitrangig für Shade. Sie musste ihn ins Bridgeport Hospital schaffen, so schnell wie möglich.
Langsam wurde sie sogar ein wenig sauer. Impulsiv warf sie sich nach vorn, um den Fremden zu Fall zu bringen. Ungeschickterweise erwischte sie nur seinen Fuß, den er gerade beim Laufen nach hinten streckte. Wie ein nasser Sack fiel sie in den Schnee und kam sich vor, als befände sie sich mit einem Mal in einer dieser Hollywood-Komödien, die ihre Nerven strapazierten, da sich die Figuren
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