Eisige Versuchung
die meisten Absolventen weitaus besser gewesen als sie. Wahrscheinlich hatte Sonny sie nur eingestellt, weil sie billig gewesen war und sie jemanden für die unwichtigen Aufgaben brauchte. Damit musste Shade leben.
Ein Jahr lang war ihr das egal gewesen, Hauptsache, sie verdiente ihr eigenes Geld und konnte endlich bei ihrer chronisch unzufriedenen Mutter ausziehen. Aber jetzt, mit sechsundzwanzig, schmerzte es, nur der Laufbursche zu sein, während ihre gleichaltrigen Kollegen langsam die Karriereleiter emporkletterten. Shade war sich bewusst, dass ihr dasselbe nur gelingen würde, wenn sie engagierter war als ihre Konkurrenten – und wenn ein Wunder geschah.
Shade hoffte, dass ihr Wunder die Farbe Weiß trug.
Als sie aus ihrem SUV stieg, hörte sie es bereits. Menschen, die in der Stadt aufgewachsen waren, glaubten, im Winter wäre der Forst geräuschlos und alle Tiere schliefen entweder oder wären in wärmere Gebiete geflogen. Aber Shade, deren Kinderjahre in der Sierra Nevada sie mehr geprägt hatten, als sie selbst geahnt hatte, wusste es besser: Der Schnee knisterte. Man konnte es hören, wenn man ganz still auf der Stelle stand.
»Wahrscheinlich liegt es daran, dass Städter so wenig über die Natur wissen«, dachte Shade, denn sie hielten kaum inne und lauschten so wie Shade in diesem Moment. Sie blieb vor dem Geländewagen stehen und konnte sich nicht der unterschiedlichsten Gefühle, die auf sie einstürmten, erwehren. Wanderausflüge mit ihrem Paps, ihr Großvater, der ihr jede Pflanze und jedes Insekt erklärte, das Herumtollen mit Kid, aber eben auch die Konsequenzen, die man tragen musste, wenn man sich weiter von Bridgeport entfernte, als es erlaubt war.
Bevor ihr Herz wieder schwer wurde, ging sie zum Heck des SUV, zog ihre Turnschuhe aus und die Boots, die im Kofferraum lagen, an. Sie wünschte, sie hätte sich Schneeschuhe und Skistöcke ausgeliehen, aber als sie von dem verfrühten Wintereinbruch in ihrer Heimat gehört hatte, hatte sie niemals mit so viel Schnee gerechnet!
Jeder ihrer Schritte wurde von einem Knirschen begleitet, das sie als Mädchen so sehr geliebt hatte. Selbst heute noch stapfte sie extra hart auf, damit das Geräusch lauter war und sie es noch mehr genießen konnte. Dann kam sie sich kindisch vor und ließ es bleiben.
Sie hatte erwartet, dass sie ohnehin nicht weit kommen würde, weil es unentwegt schneite und die weiße Schicht, die den Boden bedeckte, immer höher werden müsste, doch das tat sie merkwürdigerweise nicht. Als Shade schon ein gutes Stück weit den Mount Jackson hochgestiegen war, versanken ihre Boots immer noch nur zur Hälfte.
Dicke Flocken fielen zur Erde.
Pausenlos.
Und dennoch blieb die Schneedecke gleich hoch.
»Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!« Außer Puste blieb Shade stehen. Sie ging zwar hin und wieder im North Hollywood Park joggen, aber vielmehr, um ihren Freunden und Kollegen gegenüber nicht zugeben zu müssen, keinen Sport zu treiben. In den Bergen machte allein die dünne Luft ihr zu schaffen. Ihre Heimatstadt lag auf zweitausend Höhenmetern. Wie hoch mochte sie inzwischen sein?
Sie schaute sich um und fragte sich, ob das Militär etwas mit diesem seltsamen Phänomen zu tun hatte. Vielleicht führten sie heimlich Wetterexperimente in dieser abgelegenen Region durch, die je nach Saison mehr Touristen als Einwohner aufwies. Zwanzig Meilen nördlich von Bridgeport lag das US Marine Corps Mountain Warfare Training Center. Offiziell wurden die Soldaten in Kriegsführung unterrichtet und trainierten für den Ernstfall. Aber wer wusste schon, was inoffiziell dort vor sich ging?
Tief atmete Shade ein. Kam es ihr nur so vor, oder war die Luft einige Grade wärmer, als sie es bei diesen Witterungsverhältnissen hätte sein sollen? Sie entdeckte Spuren eines Vogels, der einige Male über den Boden gehüpft und dann anscheinend davongeflogen war. Vielleicht hatte er nach Futter gesucht. Auf ihrem Weg noch ein Stück weiter nach oben begegnete ihr ein Igel. Sie sah sogar frische Abdrücke von Bärentatzen im Schnee, aber das Tier schien weitergezogen zu sein. Der plötzliche Wintereinbruch brachte die Natur durcheinander.
»Das ist nicht gut, gar nicht gut.« Falls der Schnee sich vom Mount Jackson ins Bridgeport Valley ausbreitete, würden die Touristen früher als üblich wegbleiben, und das konnte sich das Mono County nicht leisten. Die meisten kamen hierher, um am Walker River zu angeln, zu wandern oder die Geisterstadt Bodie
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