Eiskalt wie die Nacht: Thriller (Dicte Svendsen ermittelt) (German Edition)
Narben und die unbeholfenen Tätowierungen auf seiner Handfläche gesehen. Ohne Dank oder ein weiteres Wort war er zum Carport geschlurft, um die Schaufel zu holen. Kurz darauf hatte sie ihn beobachtet, wie er angefangen hatte, Schnee zu schaufeln. Nach etwa zehn Minuten hatte er einen Stein freigelegt, ihn hochgehoben und etwas darunter hervorgezogen. Danach hatte er ihrdie Schaufel zurückgebracht, das Haus aufgeschlossen und ausgelassen den Hund begrüßt. Das hatte sie schließlich überzeugt, dass er in Ordnung war. Zusätzlich zu der Tatsache, dass er das Geheimversteck des Schlüssels gekannt hatte.
Und jetzt brach er wieder auf. Allerdings trug er dieses Mal Handschuhe und eine viel dickere Jacke sowie eine Wollmütze auf dem Kopf. Sie erkannte die Jacke wieder. Der Mann von nebenan – Peter A. Boutrup hatte sie heimlich am Klingelschild gelesen, als er mit dem Hund unterwegs war – hatte sie immer an, wenn er mit dem Hund spazieren ging. Das tat er jeden Tag. Es war ein schöner Hund. Ein Schäferhund.
Sie trat vom Fenster weg, wusste aber nicht so richtig wohin. Kälte und Müdigkeit waren eine schlechte Kombination. In diesem Haus fror sie die ganze Zeit. Sie nieste und hustete so viel, dass ihr die Lungen schon wehtaten. Es war, als zöge die Kälte durch alle Ritzen, und sie fühlte sich, als liefe sie auf Watte – so müde war sie. Sie wusste, dass sie etwas essen sollte. Doch jedes Mal, wenn sie das versuchte, blieb ihr der Bissen im Hals stecken. Wenn sie nur schlafen könnte. Aber das Liegen tat so schrecklich weh, allein beim Gedanken an ihr Bett sträubte sich alles in ihr. Nur wenn die Erschöpfung übermenschlich wurde, konnte sie die Warnzeichen ignorieren, sich hinlegen und loslassen. Aber jetzt war sie noch nicht müde genug, darum schaltete sie den Fernseher ein. Das Neujahrskonzert aus Wien wurde übertragen.
Sie mochte die Musik, alles in ihr fing an zu schwingen und zu schaukeln, vor und zurück. Früher einmal, vor der Katastrophe, war für sie das Tanzen ein Freiraum gewesen. Sie hatte keine Tanzausbildung, sondern hatte sich ihre Schritte und Drehungen selbst ausgedacht. Aber ihr Körper war für den Tanz gemacht, das fühlte sie. Nicht um darauseinen Beruf werden zu lassen, es war einfach ein Teil von ihr, so wie Luft zu holen oder einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Sie erhob sich, der Walzer zog sie aus dem Sessel. Zaghaft bewegte sie sich im Takt der Musik. Summend und hin und her wippend drehte sie sich im Kreis, hoch auf die Zehen, wieder runter, bis sie in einen tranceähnlichen Zustand geriet. Aber sie war noch immer sehr schwach und als die Musik verstummte und der Applaus aufbrandete, blieb sie stehen, auf Strumpffüßen, ganz außer Atem, während sich im Kopf noch alles drehte. Plötzlich sah sie nicht mehr das Orchester im Fernseher, sondern Bruchstücke des Unfalls und all die Dinge, die sie damals so verwirrt hatten, bis sie nicht mehr wusste, wer wo was und warum sie war.
Sie schaltete den Fernseher aus. Ihr Herz hämmerte. Der Schweiß lief ihr die Stirn hinunter. Sie brauchte dringend frische Luft, obwohl ihre Müdigkeit unüberwindbar schien.
Sie ging in den Flur und zog sich mehrere Lagen übereinander an. Dann nahm sie ihr Handy und steckte es zur Sicherheit in die Jackentasche. Dabei dachte sie an ihren Nachbarn, Peter A. Boutrup. Er hatte sie vor kurzem gegrüßt, sie aber hatte den Gruß nicht erwidert. Erklären konnte sie sich dieses Verhalten allerdings nicht, vielleicht war sie einfach zu schwach gewesen dafür.
Sie wollte gerade das Haus verlassen, als sie bemerkte, dass er im selben Augenblick die Tür seines Hauses hinter sich geschlossen hatte, um mit dem Hund spazieren zu gehen. Sie hasste solche Situationen und spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Was tun? Gefangen von ihrer Unentschlossenheit, blieb sie am Fenster stehen, außerstande, sich zu bewegen, während sie ihm mit Blicken folgte, wie er seine übliche Runde die Steilküste entlang durch knöcheltiefen Schnee stapfend antrat. Der Hund rannte neben ihm her, ausgelassen hüpfend,nachdem er so lange im Haus eingesperrt gewesen war. Er warf kleine Hundekekse in die Luft, die er im Sprung fing, oder er schleuderte sie in den Schnee, damit der Hund danach graben musste.
Erst als sie eine ganze Weile außer Sicht waren, wagte sie sich aus der Tür.
Die Luft war eiskalt und brannte in der Lunge. Es gab keine Alternative, als denselben Weg einzuschlagen, den er mit dem Hund genommen hatte. In
Weitere Kostenlose Bücher