Eiskalte Berührung - Cole, K: Eiskalte Berührung
in seinen Augen sehen konnte. »Es gibt Tausende von uns. Sie leben entlang der ganzen Küste und warten.« Ihre Augen waren silbern, ihr Gesicht blutverschmiert. Der Mann war vor Todesangst wie erstarrt. »Und ich bin eine der Sanften.«
Sie wandte sich von ihm ab, wischte sich die Hände ab und sagte zu sich selbst: »So setzt man Gerüchte in die Welt.«
Doch ihre Großtuerei fiel von ihr ab, als sie zu den grob behauenen Grabsteinen auf dem Hügel am Meer kam, unter denen Carin und ihre Mutter lagen. »Du dummer Mensch«, zischte sie am Grab der Mutter. »Du seist verflucht in deiner Hölle. Warum hast du mir nicht gehorcht? Ich hatte dir doch geraten, Carin im Frühling, wenn sie herunterkommen, ins Landesinnere zu bringen. Haltet euch von den Küsten fern «, sagte sie. Ihre Stimme brach, und ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, als sie sich dem Grabstein des Mädchens zuwandte. Sie schmiegte sich eng an ihn, ihr Gesicht an die kunstlose Inschrift gelegt. Dann schlug sie ihren Kopf mit voller Wucht gegen den Stein, und ihr Blut tropfte aus der entstandenen Risswunde.
Und so blieb sie, bewegte sich tagelang nicht, während die Dorfbewohner am Fuß des Hügels Wache hielten und Opfer wie für eine Göttin darboten, damit sie ihnen Schutz und ihre Gunst schenkte.
Wroth überlief bei dem Schmerz, den Myst gar nicht zu fühlen schien, ein Schaudern – ihre blutverschmierte Hand war am Stein festgefroren, ihre Muskeln waren verkrampft und ihre Haut rau von der Kälte. Am dritten Tag fand ihre Schwester Nïx sie und hob sie auf, als ob sie federleicht wäre. Die Tränen auf ihrem Gesicht waren zu Eis erstarrt.
»Schhhh, Myst«, murmelte Nïx. »Wir haben schon von deiner Rache gehört. Sie werden nie wieder einem Mädchen etwas antun. Genau genommen bezweifle ich, dass dieser ganze Verein jemals wieder diese Küste belästigen wird.«
»Aber … das Mädchen«, flüsterte Myst verwirrt. Erneut flossen Tränen. »Sie ist einfach fort .« Das letzte Wort war ein Schluchzen.
»Ja, mein Schatz«, sagte Nïx. »Und sie wird niemals wiederkehren.«
Myst weinte bitterlich. »Aber … aber es tut weh , wenn sie sterben.«
Nïx drückte einen Kuss auf Mysts Stirn und murmelte: »Und das tun sie immer.«
Mysts Leid erfüllte Wroths Herz mit Schmerz, wie er ihn noch durch keine körperliche Wunde je gespürt hatte. Sie war vor den Männern davongerannt, weil diejenigen, die ein »hilfloses« Mädchen jagen würden, dem Tode geweiht waren. Wroth wünschte sich, er könnte bei dieser Erinnerung bleiben, sich vergewissern, dass sie sich von dem höllischen Schmerz erholte, aber schon begann ein weiterer vertrauter Traum.
Draußen lag Schnee, so hoch, dass er das halbe Fenster bedeckte. Die Versammlung um das Kaminfeuer. »… sie anleiten, all das zu sein, was an den Walküren gut und ehrenhaft war … «
Myst verschloss sich gegen eine Erinnerung – die er unbedingt sehen musste –, die sie niemals ungeschehen machen konnte, niemals auslöschen. Sie erinnerte sich und schwor noch einmal, dass sie sich als würdig erweisen würde.
Sie befand sich zum ersten Mal auf dem Schlachtfeld, und sie war dort, um unter den Toten zu wählen. Sie war noch sehr jung, als man sie zu diesem Zweck ausgeschickt hatte, kaum fünfzehn, da sie die Tochter einer tapferen Piktin war, die sich den Dolch ins eigene Herz gestoßen hatte. Von Myst wurde erwartet, dass sie genauso war.
Aber das war sie nicht. Noch nicht. Sie war krank vor Angst.
Einhunderttausend Männer, in Stücke gehauen, sie watete in einem Strom von Blut, der ihr bis zu den Knöcheln reichte.
»Sie waren alle tapfer«, sagte sie. Sie sah sich um, drehte sich benommen im Kreis, während die Energie in Wellen aus ihr herausströmte. »Wie soll ich da wählen?«, flüsterte sie. Sie klang verloren. »Eine Bettlerin, die ein paar Münzen verteilt … « Sie begann vor Furcht hemmungslos zu zittern.
Er wäre am liebsten dort gewesen, um sie zu beschützen, zu trösten.
Eine weitere Erinnerung. Diesmal eine, die ihm neu war. Konnte er noch mehr ertragen?
Myst rannte auf ihn zu, als er nach kurzer Abwesenheit nach Blachmount zurückkehrte. Und als er sie in die Arme nahm, fest an sich drückte und sie küsste, dachte sie: Ich bin ihm in die Arme gelaufen. Ich bin ihm … Wahnsinn. Echt Wahnsinn.
Wroth erinnerte sich, wie sie sich von ihm gelöst hatte, ihr Gesicht war gerötet gewesen, und sie wirkte fast panisch, machte dumme Witze über die Xbox, sagte, sie fühle
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