Eiskalte Hand (Die Chroniken von Mondoria) (German Edition)
Macht und Intrigen aufgebaut war? Die Zeit im Orden formte sie zu der, die sie war. Und dafür dankte sie.
Bereits in Mirana hatte es ihr gedämmert, dass ihre Suche sie irgendwann zurück zu ihren Wurzeln führen würde. Vielleicht existierten alte Dokumente, vielleicht lebten noch einige der alten Brüder und Schwestern, die dabei waren, als man sie ins Kloster brachte. Nicht unmöglich. So einige der Ordensgeschwister erreichten ein stolzes Alter. Offenbar waren die kontemplativen Übungen und die viele Bewegung an der frischen Luft gut für die Gesundheit. Vielleicht sollte sich der Rest der Bevölkerung davon mal eine Scheibe abschneiden. Mia grinste, als sie an die fettleibigen Adeligen denken musste, mit denen sie hin und wieder zu tun hatte. Wie die Frösche, die sie als Kind gerne mal mit einem Strohhalm aufgepustet hatte, bis sie wie kleine grüne Ballons aussahen. Für die Gesundheit der Frösche war das gewiss nicht förderlich, allerdings sahen die fetten Adeligen auch nicht gerade gesund aus.
Immer noch erheitert wandte sie sich wieder dem Berg zu. Der einzige Weg zum Kloster – sofern man nicht fliegen konnte – bestand aus einem schier endlosen Pfad, der direkt in den Fels geschlagen war. Achtzehntausend Stufen galt es zu betreten, die den Wanderer zweimal um den gesamten Berg führten, bis er schließlich vor dem Tor des Klosters landete. So entpuppte sich bereits der Weg hinauf zur Herausforderung und zur Geduldsprobe. Vermutlich nicht ganz unbeabsichtigt, denn Geduld und Beharrlichkeit galten als wesentliche Tugenden von Bantru Vaksha. Jeder, der diesen Pfad bestiegen hatte, wurde als würdig erachtet, das Kloster zumindest zu betreten. Wie lange er dann darin verweilen durfte, das stand auf einem ganz anderen Blatt. „Nun denn.“, sagte Mia mit festem Ton zu sich. Noch einmal überprüfte sie ihre Ausrüstung, atmete tief durch und setzte ihren Fuß auf die erste Stufe. Nur noch siebzehntausendneunhundertneunundneunzig.
Nach einer halben Stunde hatte sie die ersten fünftausend Stufen geschafft. Sie wählte bewusst ein nicht allzu schnelles Tempo und genoss den Aufstieg. Je höher sie kletterte, desto interessanter wurde der Ausblick. Ganz neue Perspektiven taten sich auf. Gleichzeitig rückte das Kloster immer näher und damit auch die Erinnerungen an Mias Kindheit und Jugend. Bilder und Gedankenfetzen stiegen in ihr auf und hüllten sie allmählich ein. Sie sah sich beim Training, beim Lernen, im Gespräch mit anderen Kindern und Jugendlichen. Aber sie sah sich nie lachen. Sie erinnerte sich an die schier endlosen Flure und Gänge im Kloster, an Botendienste und Putzarbeiten, die sie verrichten musste, an den Gehorsam, den sie älteren und höher gestellten Schwestern und Brüdern im Orden entgegenzubringen hatte. All das tat sie pflichtbewusst, aber ohne echte innere Freude. Gleichwohl spürte sie die Kraft, die während der Zeit im Kloster in ihr gewachsen war – den Willen, immer die Beste zu sein, die anderen zu übertrumpfen. Ein Gefühl, das Stolz in ihr auslöste, aber auch Furcht – Furcht davor, die Kontrolle zu verlieren und den Machtgelüsten freien Lauf zu lassen. Sie dachte an den Entschluss, das Kloster zu verlassen. Langsam reifte er in ihr. Und dann ging es letztlich doch sehr schnell. Urplötzlich war die Gewissheit da, dass der richtige Moment gekommen sei. Und zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie so etwas wie Zufriedenheit. Sie war glücklich.
Die Bilder und Gedanken trugen sie förmlich den Berg hinauf. Eine Selbstbetrachtung, ja, in gewisser Weise auch eine Konfrontation, die sie als heilsam, als reinigend empfand. All das, was noch unausgesprochen, ungeklärt im Raum stand, bekam stärkere Konturen und verlor zugleich sein belastendes Gewicht. Sie befand sich auf dem Weg zu ihren Wurzeln, um diese endgültig hinter sich lassen zu können. Und dazu musste sie ein für alle Mal wissen, wer sie wirklich war.
Mia schaute sich um. Aus dem massiven Holztor flogen vier geschnitzten Drachen auf dem Betrachter zu. Vier Drachen, die für die elementaren Tugenden der Bantru Vaksha standen: Geduld, Beharrlichkeit, Demut und Gehorsam. Eine wirkungsvolle Illusion. Noch ein paar hundert Stufen, dann hatte sie das Tor erreicht. Sie fühlte sich keineswegs erschöpft oder angestrengt. Im Gegenteil: eher erfrischt und wacher als noch unten am Fuß des Berges. Voller Zuversicht machte sie sich auf das letzte kurze Stück des Weges.
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