Eiskalte Hand (Die Chroniken von Mondoria) (German Edition)
28
Eine dichte Wolkendecke verhüllte Mond und Sterne. Finsternis lag schwer auf dem verlassenen Hof. Allein das kleine Mädchen stand aufrecht auf dem kleinen hölzernen Podest, das in der Mitte des Hofes aufgestellt war. Die nasse Kälte kroch an ihren Beinen hoch und sorgte für eine Gänsehaut am ganzen Körper. Trotzig stand sie da, die Arme verschränkt. Unablässig konzentrierte sie sich darauf, alle Gefühle von sich fernzuhalten. Die Kälte, die Angst vor der Dunkelheit, die Wut auf den Meister – all das zählte nicht. Sie ließ es an sich abprallen, wie an einem dicken Panzer. Egal, was die anderen meinten, sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Sie war stark, sie war unbesiegbar, sie war Mia.
In Gedanken sah sie den Jungen. Tamil. Selbst in ihrem Kopf formte sie seinen Namen mit einem verächtlichen Unterton. Er war neun Jahre alt, drei Jahre älter als Mia, und schon deutlich länger im Kloster als sie. Doch sie hatte ihm mit einem einzigen harten Schlag die Nase gebrochen. Das Nasenbein hing schief, Blut lief ihm aus dem rechten Nasenloch und tropfte von seinem Kinn. Tränen der Wut und des Schmerzes rannen aus seinen Augen. Er weinte. Wie würdelos! Mia fühlte bei alledem keine Reue. Er hatte es verdient. Schließlich hatte er sich über sie lustig gemacht, hatte sie dafür verspottet, dass sie ihre Eltern nicht kannte. Tamil kam aus gutem Hause und hielt sich für was Besseres. Das rieb er jedem unter die Nase. Doch bei Mia ging er zu weit. Und nun hatte er die Quittung bekommen. Das erkannte auch der Meister. Dennoch musste Mia bestraft werden. Sie sollte begreifen, dass ihr Verhalten falsch war und den Grundsätzen des Ordens widersprach. Und so stand sie da. Aufrecht. In der Kälte. Auf dem Podest. In ihr die unumstößliche Überzeugung, dass es richtig war zuzuschlagen. Für ihre Ehre, für den Respekt, der ihr gebührte. Keiner machte sich über sie lustig. Stolz reckte sie den Kopf empor und stieß einen stummen Triumphschrei aus.
„Guten Morgen, Schwester.“ Immer noch mit einem grimmig-entschlossenen Gesichtsausdruck schreckte Mia aus dem Schlaf und griff instinktiv nach dem Dolch, den sie sich unter das Kopfkissen gesteckt hatte. Die Bilder des Traums entschwanden wie dunkle Schemen. In Sekundenschnelle analysierte sie die Situation. Eine junge Frau von vielleicht achtzehn Jahren stand in dem kleinen Gästezimmer des Klosters und hielt ein Tablett mit Brot und anderen Speisen in den Händen. Sie trug die übliche purpurfarbene Tracht des Ordens und schaute die gerade erwachende Mia mit einer Mischung aus Besorgnis und höflicher Freundlichkeit an. Über ihren Unterarmen lag ein weiteres Purpurgewand. Angesichts der Waffe in Mias Händen blieb sie ganz still stehen und rührte sich nicht. Sie wollte keine Attacke provozieren. Gleichwohl wäre sie nicht wehrlos, wenn es dazu kommen sollte – so viel war an ihrer Körperhaltung abzulesen.
Allmählich ließ Mias Anspannung nach. Etwas verlegen steckte sie ihren Dolch weg und lächelte die fremde Frau schief an. „Entschuldigt bitte!“, sagte sie, während sie sich im Bett aufsetzte. Und schulterzuckend fügte sie hinzu: „Reflexe…“ Die junge Frau musste lachen, und das Eis war gebrochen. „Ich bringe euch das Frühstück.“, kam sie wieder auf den eigentlichen Grund ihres Hierseins und stellte das Tablett auf einem kleinen Tisch ab. „In einer Stunde erwartet euch Meister Ru Tan in seinen Gemächern. Ich nehme an, ihr kennt noch den Weg.“ Mia blieb der leicht überhebliche Unterton bei der jungen Frau nicht verborgen. Und irgendwie gefiel ihr das; denn es erinnerte sie an sich selbst und ihre Jugendzeit. Immer ein wenig rebellisch und sehr selbstbewusst. „Ach, noch was.“ Die junge Frau hatte sich schon zum Gehen umgewandt. Jetzt drehte sie sich noch einmal zu Mia zurück. „Der Meister bittet euch, dieses Gewand zu tragen.“ Sorgfältig legte sie die Ordenstracht über einen Stuhl und verließ mit einem leichten Nicken ihres Kopfes zügig das Zimmer.
Mia grinste. Zugleich war sie nicht glücklich darüber, das Gewand tragen zu sollen. Die Zeiten waren doch eigentlich vorbei. Andererseits wollte sie etwas vom Meister. Da konnte sie ihm schon ein wenig entgegenkommen. Wenn es ihn denn glücklich machte…
In ihrem Gedächtnis suchte sie nach dem Namen Ru Tan. Vor zehn Jahren war noch Ai Fen Meister des Ordens. Lange Jahre hatte er dem Orden vorgestanden, mehrere Jahrzehnte. Mia kannte gar keinen
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