Eiskalte Hand
gefunden. Und Mia freute sich aufrichtig darüber. So fröhlich und lebendig hatte sie alle beide bislang kaum erlebt.
Was ihre eigene Person anbetraf, so spürte sie eine deutliche Unzufriedenheit. Sie fühlte sich unnütz, ja regelrecht überflüssig hier in der Stadt. Der Prinz hatte sein Angebot zwar noch mehrfach wiederholt – und dabei sehr vielversprechend geschaut. Doch jedes Mal hatte sie es höflich und dankend abgelehnt. Ihr Weg, ihr Ziel sah anders aus. Und sie musste diesen Weg konsequent zu Ende gehen. Komme, was da wolle. Nur steckte sie momentan fest, kam nicht so recht voran. Alle Spuren, die sie verfolgt hatte, endeten im Nichts – oder brachten sie zumindest nicht ihrem Ziel entscheidend näher. Irgendwie wurmte es sie mächtig, dass das Haus Xi-Yang nicht hinter dem Brand steckte. Sie war sich ihrer Sache so sicher. Aber wer war es dann? Wer hatte ihre Eltern und zahlreiche weitere Verwandte auf dem Gewissen? Irgendwo da draußen lief der Verantwortliche noch herum – sofern er überhaupt noch lebte. Mia lief es eiskalt den Rücken herunter bei diesem Gedankengang. Der Verantwortliche – wer auch immer es war – musste einfach noch am Leben sein. Nur so konnte sie ihre Rache bekommen. Und sie wollte Rache. Mehr als alles andere…
Mit einer ordentlichen Portion Wut im Bauch sprang sie vom Fensterbrett herunter und landete elegant auf dem Fußboden ihres Turmzimmers. Rastlos lief sie eine Weile hin und her; bewegte die Gedanken unablässig in ihrem Kopf. ‚Das Erbe‘, sinnierte sie immer wieder, ‚ Mein Erbe‘. Seit sie diese beiden Worte gelesen hatte, bekam sie sie nicht mehr aus ihrem Kopf heraus. Sie hatten sich dort festgesetzt, regelrecht eingenistet. Und beharrlich stellten sie die Frage danach, was es denn mit diesem Erbe wohl auf sich habe. Und je länger es dauerte, desto stärker wurde die Neugier. Dabei interessierte sich Mia gar nicht in erster Linie für den möglichen Wert ihres Erbes. Geld bedeutete ihr nicht viel. Nein, es ging ihr vielmehr darum, endlich etwas zu besitzen, das sie ihrer Familie und ihren Wurzeln näher brachte – und damit zugleich auch ihrer eigenen Identität. „Wer waren meine Eltern? Wie ähnlich bin ich ihnen?“ Leise murmelte sie die Worte gebetsmühlenartig vor sich hin.
Mia merkte, wie die Wut langsam in ihr hochkochte. Aus ihrem Magen stieg sie langsam in die Brust hoch und strahlte in die Arme aus. Klar, es ihr wäre ein Leichtes gewesen, sie mit gezielter Meditation zu unterdrücken, sie in die Tiefen ihres Wesens zurückzuschicken. Aber das wollte sie nicht. Die Wut musste raus. Und schon bahnte sie sich ihren Weg. Ansatzlos schlug Mia mit der Faust in einen Schrank. Krachend durchschlug sie die Schranktür. Holz splitterte in alle Richtungen. Ein zweiter Schlag folgte…ein dritter. Kurz darauf lag anstelle des Schranks nur noch ein Haufen Feuerholz auf dem steinernen Fußboden. Vollgepumpt mit Adrenalin wirbelte Mia auf der Stelle herum und fegte mit langem Arm einmal quer über den Tisch. Alles, was darauf stand, flog in hohem Bogen davon und landete unsanft auf dem Boden. Gläser zerbrachen, Kerzen verlöschten mit einem kurzen Zischen. Immer noch wütend, aber auch ein wenig befreiter hob Mia den Stuhl wieder auf, setzte sich an den Tisch und stützte ihren Kopf auf die Arme.
Eine ganze Weile saß sie regungslos dort und starrte auf die leere Tischplatte. Aus der Ferne hätte man sie fast für eine Statue halten können. Dann mit einem Mal ging ein Ruck durch sie. Ihr Körper spannte sich an und sie stand auf. Zielstrebig ging sie zu der schweren Eichentruhe und wühlte darin herum. Nach und nach förderte sie die verschiedenen Papiere zutage, die sie im Laufe der Zeit erhalten oder gefunden hatte. Sorgfältig breitete sie sie auf dem Tisch aus und begann, alles noch einmal zu studieren. Die Stunden vergingen. Der Tag war inzwischen längst angebrochen. Dann schließlich fiel ihr Blick auf jenes Dokument, das sie ganz zu Beginn ihres Abenteuers erhalten hatte – zusammen mit den ersten Informationen über ihre Eltern. Ein Dokument, das sie bislang nicht hatte lesen können, weil es in einer fremden Sprache verfasst war. Aufgeregt schüttelte Mia mit dem Kopf. „Das mir das nicht früher eingefallen ist!“ Aber irgendwie war es ihr völlig aus dem Sinne gekommen. „Dummkopf!“, tadelte sie sich selbst und stampfte mit dem Fuß auf dem Boden auf. Vielleicht hatte sie in Wirklichkeit die Antwort auf alle ihre
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