EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller

ihm entgegenbrachte.
    Er hob das Glas Rotwein und betrachtete den blauen Horizont. Wenn Anna jetzt hier wäre, würde sie sich über irgendetwas lustig machen und mit ihm anstoßen.
    Er lächelte und überflog erneut ihren Brief.
    Lieber Pater Mateo!
    Bestimmt sitzen Sie auf unserer Terrasse und betrachten gerade den Sonnenuntergang oder den blauen Himmel. Wie gerne wäre ich jetzt bei Ihnen.
    Verzeihen Sie mir, dass ich seit drei Monaten nicht geschrieben habe. Es gab zu viele Nächte, in denen ich kerzengerade und schweißgebadet im Bett saß und trotz der beruhigenden Nähe meines Mannes zitternd hellwach blieb.
    Benedikt van Cleef hat mir ein paar Tatsachen mitgeteilt, aber sie sind kein Teil von mir geworden, sondern nur Bruchstücke in meinem Kopf und mit keinerlei Gefühl verbunden. Gelegentlich, zu den seltsamsten Zeiten, mitten in einem Satz am Telefon oder wenn ich in der Badewanne liege, fühle ich einen winzigen Ruck in mir und spüre einen zarten Erinnerungsfaden, der mich zurückziehen will.
    Die Ärzte haben mich zwar vor der Flüchtigkeit des Erinnerns gewarnt, aber ich fühle mich trotzdem von meinem Gedächtnis betrogen; es ist, als enthielte ein guter Freund mir etwas vor oder betröge mich oder führte mich vorsätzlich in die Irre. Ich habe immer gedacht, dass mein Erinnerungsvermögen wie ein Puzzle wäre und dass sich, wenn sich die Lücken füllten, ein klares Bild ergäbe, aber das ist bis heute nicht geschehen.
    Vielleicht liegt es daran, dass ich versuche, mich mit diesem Teil der Vergangenheit nicht auseinanderzusetzen. Ich halte meine Erinnerungen zurück, ich verstecke sie wie Alpträume, die im tiefen Schlaf vergraben bleiben, und schütze mich. Vielleicht kehren die Erinnerungen eines Tages vollständig zurück. Doch bis dahin will ich das Leben genießen und mich auf die Geburt unseres Kindes freuen.
    Haben Max und ich nicht das Recht, wieder frei durchatmen zu können, Pater? Niemand bedroht uns mehr, und niemand wird uns jemals wieder derartige Schmerzen zufügen. Ich kann mit meinem Mann angstfrei leben, nur das zählt. Es geht ihm gut, und gemeinsam werden wir das Erlebte bewältigen.
    Die Stille im Convento war bereits vor langer Zeit meine Therapie. Sie lehrte mich, das Leben anzunehmen. Die Stille an diesem Sommertag, die mich auf Katharinas Lieblingsbank umgibt, macht mir bewusst, dass ich keine Angst vor der Zukunft haben muss. Nur die Liebe ist eine Kraft, die überleben lässt und das Leben verändert. Das waren damals Ihre Worte, Pater. Sie haben die Entwicklung unserer Liebe vorausgeahnt. Sie sind ein Schlitzohr, Mateo, doch dafür lieben wir Sie.
    Wir möchten Sie um einen Gefallen bitten. Würden Sie unser Kind, das in etwa sechs Wochen auf die Welt kommt, taufen?
    In Verbundenheit
    Ihre Anna
    PS: Liebe Grüße auch von Max. Ich soll Ihnen ausrichten, er hätte eine neue Lieferung erhalten.
    Mateo legte Annas Brief auf den Tisch und betrachtete versonnen den Horizont.
    „Ja, ich werde euer Kind im Convento taufen“, sagte er leise.
    Er griff zum Telefonhörer. Nach einer umständlichen Erklärung erteilte der Abt des Klosters ihm die Erlaubnis, nach München zu reisen, um die Formalitäten der bevorstehenden Taufe zu besprechen.
    Und Annas zarter Hinweis auf „eine neue Lieferung“ sollte ihn zusätzlich locken.
    Mateo schmunzelte. Nur die Wahl des Weins würde etwas schwierig sein, denn Max hatte einen Keller mit den erlesensten Tropfen aus der ganzen Welt.
    ***
    Die beiden Paare legten an einem Hang oberhalb des Convento di Carmo eine kleine Pause ein. Auf der anderen Seite der Senke hatte die Septembersonne die Baumkronen in pastellfarbenes, olivgrünes Licht getaucht, als wären sie Teil eines einzigartigen Sommergemäldes.
    „Stell dir vor, unser Mateo hat bei seinem letzten Besuch eine ganze Flasche Wein mitgehen lassen.“ Anna kicherte und küsste das kleine Bündel in ihren Armen.
    Benedikt van Cleef grinste. „Beim nächsten Klau könnten wir ihn einen Tag in der Zelle schmoren lassen.“
    „Du und Mathi seid aus demselben Holz geschnitzt“, sagte Anna lächelnd. „Großes Herz, aber null Toleranz für die Sünder.“
    „Das kommt ganz auf die Sünde an“, widersprach Benedikt und zwinkerte Mathilda zu.
    Mathilda warf Anna einen liebevollen Blick zu. „Mateo machte eine richtig gute Figur bei der Taufe. Er hat speziell für diese Feierlichkeit Diät gehalten.“
    Anna lachte.
    „Ich konnte aber nicht erkennen, dass sein Gourmethügel an Umfang