Eiskalte Verfuehrung
Stoß aufs Linoleum. Lollys Herz klopfte so heftig, dass sie meinte, es würde jeden Augenblick bersten, und es war ihr heiß und eiskalt zugleich.
Ein Schock, dachte sie, bevor ihr die Knie weich wurden und sie neben dem Bett zusammenbrach. Das war nicht gerade hilfreich. Ihre Augen verdrehten sich, als würde die Welt einen Salto machen, und sie kippte zur Seite. Nach Luft ringend lag sie da, versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen, doch es gelang ihr nicht.
Die Erkenntnis, was schiefgelaufen war, bewirkte nicht, dass sie sich besser fühlte. Wenn Darwin jetzt durch diese Tür da käme, wäre sie völlig hilflos.
Was sollte sie tun? Was konnte sie tun?
Lolly wusste es nicht, aber eines wusste sie sehr wohl: Sie wollte lieber sterben, als noch einmal Darwin in ihre Nähe zu lassen.
Der Gedanke an Darwin bewirkte, dass sie genügend Kraft aufbrachte, sich aufzusetzen, und obwohl ihr schwindelte, zwang sie sich, aufgerichtet zu bleiben. Es bestand die Möglichkeit, dass sie sterben würde, aber es sollte sie der Teufel holen, wenn sie sich hier einfach nur zusammenkauerte, schluchzte und abwartete, dass sie mit ihr machten, was ihnen gerade einfiel. Sie wollte sich lieber in dem Eissturm zu Tode frieren, als wie ein hilfloser Idiot hier herumzuhocken.
Eines würde sie jedenfalls bestimmt nicht tun: Den beiden die Sache leicht machen. So vorsichtig, wie sie konnte, denn in ihrem Kopf drehte es sich noch immer und außerdem wollte sie natürlich auch nicht, dass man sie hörte, tastete Lolly sich auf allen vieren zur Tür und drehte am Knauf. Niki hatte recht: Das Schloss war zu lasch, um die zwei lange aufzuhalten, aber zumindest würde es ihr einen Augenblick der Warnung verschaffen, bevor sie hereinplatzten.
Mit ein bisschen Glück wäre sie nicht mehr hier, wenn sie beschlossen wiederzukommen, denn sie wollte es lieber mit dem Eis aufnehmen als mit ihnen. Sie atmete tief ein, damit der Schwindel endlich aufhörte, und trat ans Fenster, um hinauszuschauen. Ja, da war wirklich Eis auf der Scheibe, und sonderlich hell war es auch nicht mehr, denn wegen der tiefliegenden Wolken brach die Dämmerung frühzeitig an. Sie hatte nicht viel Zeit, die Bedingungen würden sich nur noch verschlechtern.
Der Boden unten sah so ewig weit weg aus, dass Lollys Instinkte aufschrien. Sie würde sich das Genick brechen, wenn sie hinuntersprang – aber sie hatte ja gar nicht vor zu springen. Von ihrem Fenster ging es gerade nach unten, da fand sich kein Dachvorsprung oder Sims, der ihr eine Hilfe gewesen wäre, aber auf dem Bett lagen ein Betttuch und eine Decke, darunter ein Laken. Das Unterbett war vermutlich zu dick, um ihr von Nutzen zu sein, aber wenn sie das Laken mit dem Betttuch verknotete und das dann mit der Decke und das so gewonnene Seil gut verankerte, dann käme sie vermutlich nah genug an den Boden heran, um sicher nach unten zu gelangen.
Ihr Plan verlieh ihr neue Kräfte. So schnell es ihr Zustand zuließ, riss Lolly die Bettwäsche herunter. Die Laken zu drehen, war am einfachsten, weil sie am dünnsten waren. Sie verknotete die erste Ecke mit dem Fuß des Bettes und zerrte fest daran, um zu prüfen, ob der Knoten auch hielt. Lolly war nie bei den Pfadfinderinnen gewesen, segelte nicht und hatte auch keinen blassen Schimmer von irgendwelchen Knoten, die über das Binden ihrer Schnürsenkel hinausgingen. Sie konnte einfach nur hoffen, dass ein ganz normaler, altbewährter Knoten seinen Dienst tun würde.
Nach den Laken kam das Betttuch, dann die dünne Wolldecke. Sie hätte sich nur zu gern hineingekuschelt, aber sie brauchte auch sie wegen der Länge, denn das Bett stand ungefähr drei, vielleicht auch dreieinhalb Meter vom Fenster entfernt. Dass das Haus so geräumig war, hatte ihr immer gefallen; doch jetzt arbeitete dieser viele Platz gegen sie. Sie konnte das Bett nicht verschieben – nicht ohne mehr Aufmerksamkeit zu erregen, als ihr lieb war. Lolly musste das Haus verlassen, so geräuschlos wie möglich.
Als Lolly nach einer scheinbaren Ewigkeit fertig war, zwang sie sich, einen Moment einfach nur ruhig dazusitzen, ihrem rasenden Herzen Zeit zu geben, in seinen normalen Rhythmus zu finden. Sie schwitzte, und das war nicht gut. Eine der ersten Regeln, wenn man in der Kälte überleben wollte, war, sich nicht zu überanstrengen. Wenn man ins Schwitzen kam, gefror der Schweiß am Körper und ließ die Unterkühlung noch schneller eintreten.
Lolly schüttelte über sich selbst den Kopf.
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